Altes Pergament wird zum Politikum

Die Stuttgarter Landesregierung will mittelalterliche Handschriften an Privatsammler versteigern. Das geplante Geschäft mit dem Fürstenhaus Baden stößt weltweit auf Protest. Fachleute warnen, der Deal käme einer „zweiten Säkularisierung“ gleich

AUS STUTTGART HEIDE PLATEN

Dass sich nicht nur fachspezifischer, sondern auch handfester, parteiinterner Protest ausgerechnet an altem Pergament entzünden könnte, hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) nicht angenommen. In der vergangenen Woche musste er den geplanten Verkauf von 3.600 mittelalterlichen Handschriften aus der Sammlung der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe verteidigen. Der Plan erregt nicht nur den kulturpolitischen Sprecher der Stadt, Hans-Jürgen Vogt (CDU), der vermutete, Oettinger habe vielleicht „die Dimensionen“ seines Handelns nicht richtig überdacht und die Brisanz unterschätzt. Die Sammlung sei „identitätsstiftend nicht nur für Baden, sondern für Deutschland und ganz Europa“.

Inzwischen ist auch Bundeskulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) zur Rettung angetreten. Er kündigte an, dass er ein Ausfuhrverbot für die Sammlung prüfen lasse. Man erwäge, sie auf die Liste nicht veräußerbarer, nationaler Kulturgüter zu setzen. Das würde die Verkaufschancen erheblich schmälern.

Der Konflikt, über den Oettinger noch Ende September gespottet hatte, er werde in den „Kulturteilen und nicht auf den Wirtschaftsseiten“ der Medien ausgetragen, wächst sich zum Politikum aus. Es hagelt Proteste und Solidaritätsadressen aus aller Welt für die Landesbibliothek. Professoren von Harvard, Princeton und anderen namhaften Universitäten kritisieren öffentlich diesen „beispiellosen Akt der Barbarei“. Auch Spender, Förderer, Mäzene der Badischen Bibliotheksgesellschaft zürnen: „Eingriffe in unsere spezifische Kultur sind tabu.“ Der Verband Deutscher Schriftsteller, der Deutsche Kulturrat, Archivare protestierten gegen das Geschäft, das insgesamt rund 70 Millionen Euro einbringen soll.

Der Deal sieht vor, dass das Land dem Markgrafenhaus Baden genehmigt, die Sammlung aus der ehemaligen Großherzoglichen Hofbibliothek auf dem Kunstmarkt anzubieten. Im Gegenzug verzichten Erbprinz Bernhard (36) und seine Anverwandten auf andere Kunstwerke in den Landessammlungen, zahlen für die Renovierung von Schloss und Kloster Salem am Bodensee, gründen eine Stiftung für dessen Erhalt und behalten das Wohnrecht.

Unter den Hammer kämen große Teile des Altbestandes, zum Beispiel die „Gesta Witigowonis“ aus dem 10. Jahrhundert. Die Landesbibliothek, so deren Direktor Peter Michael Ehrle, wäre als weltweit renommierte Forschungseinrichtung erledigt. Der „Zerstörungsakt“ des Kulturerbes durch den Ausverkauf an Privatsammler, warnte er, käme einer „zweiten Säkularisierung“ gleich.

Die Rechtslage ist kompliziert. Seit Jahrzehnten streiten Land und Adelserben, beide gleichermaßen schlecht bei Kasse, um die Besitzverhältnisse. Die Landesregierung sieht sich dabei seit der Auflösung des Großherzogtums Baden 1918/1919 als Rechtsnachfolger der Monarchie. Eine gerichtliche Klärung scheuten die Kontrahenten. Immer wieder wurde verhandelt.

Der Deal, so Wissenschaftsminister Peter Frankenberg (CDU) vergangene Woche, würde endlich „Rechtssicherheit“ herstellen. Und er käme dem Haus Baden gelegen, das bereits Schlossinventar versteigerte, sich von fürstlichen Betrieben und einem Yachthafen trennen musste. Es habe dem Land, so Oettinger, mit einer Herausgabeklage für andere, wichtigere Kunstschätze – darunter zwei Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. – im Gesamtwert von 250 Millionen Euro gedroht, wenn es den Verkauf der Handschriften verweigere. Dem Verkauf müsste der Landtag zustimmen. Das Geschäft war bereits in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und FDP beschlossen worden.

Der Stuttgarter Landesrechnungshof hat inzwischen vorgeschlagen, auch den Bestand der Museen nach verkaufbaren Stücken zu durchsuchen. Währenddessen formiert sich in Baden Bürgerwiderstand gegen das Ungemach aus der württembergischen Landeshauptstadt.