Die Perle des Wedding

Das ehemalige Betriebsgebäude von Rotaprint ist ein einzigartiges Baudenkmal der 50er-Jahre und Raum für Unternehmer, Initiativen und Künstler. Sie wollen als Verein „ExRotaprint“ das Gelände übernehmen. Doch nun soll es in einem Immobilienpaket des Liegenschaftsfonds verramscht werden

„In den letzten fünf Jahren hatten wir vier Verwaltungen und drei Hausmeister. Eine langfristige Perspektive ist verlorengegangen“

von Christoph Villinger

Der vierstöckige Turm sieht aus, als hätte man Legosteine leicht versetzt aufeinandergeschichtet. Doch was die meisten nur als halbverrotteten Sichtbeton wahrnehmen, „macht den Kenner verliebt“, erklärt Stadtsoziologin Karin Baumert. Detailbesessen zeigt sie, wie das Baudenkmal aus den 50er-Jahren die Straßenfluchten spielerisch aufnimmt und die Ecke betont, „wie modern und avantgardistisch es ist“. Aber anders als bei Gründerzeitbauten, die liebevoll restauriert werden, sichert der Liegenschaftsfonds (LiFo) des Landes Berlin allerdings nur die schlimmsten Bauschäden an den ehemaligen Betriebsgebäuden des Druckmaschinenherstellers Rotaprint. „Wenn jetzt nicht bald was passiert, kann man nur noch abreißen.“

Noch wird das mitten im Wedding in der Nähe des Nauener Platzes gelegene fast 10.000 Quadratmeter große Gelände von einer bunten Mischung aus Initiativen, Verbänden, Gewerbetreibenden und Künstlern genutzt. Da bietet ein Arbeitslosenprojekt Büchertausch an, neben der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft DLRG hat hier auch die Zentrale von SOS Kinderdorf seinen Sitz, eine Firma repariert Neopren-Tauchanzüge, und im Hinterhof stellt der türkische Unternehmer Yilmaz aus Nirostastahl die Inneneinrichtung für Dönerbuden her.

Rund um die hier ansässige Künstlergruppe „soup“ hat sich der Verein „ExRotaprint“ gebildet, der das Gelände in Eigenregie übernehmen will. Als Rotaprint 1989 Pleite machte, fiel das Gelände an den Bezirk. Dieser versuchte es in den folgenden Jahren zu verkaufen – ohne Erfolg. Inzwischen befindet sich das Terrain im Besitz des Liegenschaftsfonds. „In den letzten fünf Jahren hatten wir vier Verwaltungen und drei Hausmeister“, berichtet Les Schliesser von „soup“. Jegliche langfristige Perspektive sei verlorengegangen.

Selbst auf das Bieterverfahren des LiFo meldete sich, so Schließer, niemand, „außer uns, die einen Euro boten“. Allerdings bei Folgekosten von rund sieben Millionen Euro für die Sanierung. Doch die Verhandlungen im Frühjahr mit dem LiFo über einen Erbpachtvertrag kamen trotz Unterstützung durch den Bezirk Mitte zu keinem Ergebnis. Im Ausschuss bestand eine der Senatsverwaltungen auf den Kauf zum Verkehrswert in Höhe von rund einer Million Euro.

Jetzt befindet sich das Gelände in einem Immobilienpaket, das „in diesen Tagen auf den Markt kommt“, wie Anette Mischler, Sprecherin des LiFo sagt. Gute, mittlere und schlecht verkäufliche Gewerbegrundstücke werden dabei in ein Paket geschnürt und am Stück verkauft. Die weitere Verwertung übernimmt der Käufer, meist pickt er sich die Rosinen heraus und entwickelt und verkauft diese weiter. Die sogenannten Schrottimmobilien verfallen meist weiter. Mischler sieht die Verantwortung für dieses Vorgehen bei den zuständigen Politikern, „denn der LiFo hat den gesetzlichen Auftrag, zu verkaufen, und dies hat Vorrang vor Zwischennutzung oder anderweitigen Lösungen“.

Dabei wollte der Verein ExRotaprint nur „eine Pufferzone von zwei bis drei Jahren, um das Gelände konzeptionell neu aufzustellen und eine tragfähige Struktur zu schaffen“, sagt Schliesser. Im Augenblick deckten die Mieteinnahmen nicht einmal die Betriebskosten. „Im Unterschied zum Prenzlauer Berg sind wir hier im Wedding, hier gibt es keine alternative Szene, keine Architekten, keine Banken und kein Geld – die Leute haben Probleme, ihre Miete zu bezahlen.“ Seine Kollegin Daniela Brahm pflichtet ihm bei. „Hier sind wir ganz unten, hier ist nicht mal Neukölln“, sagt die 40-jährige Künstlerin und berichtet von aus den Fenstern der Nachbarhäuser fliegenden Mülltüten. Das Flachdach eines Anbaus auf dem Gelände ist mit leeren Bierflaschen überfüllt. Der Bäckerladen an der Ecke sei in den letzten Jahren viermal überfallen worden.

Doch gleichzeitig zieht dieser morbide Charme die Künstler an. „Wir wollen eben nicht in einem Künstlerwohnheim arbeiten, sondern mitten im realen Leben“, sagt Schliesser. Sie denken an Handwerker und Vereine, die sich hier niederlassen könnten. Und ein Kongresszentrum für NGOs wie amnesty international und Greenpeace. „So ein Projekt wäre viel mehr Sozialarbeit und Integration, als jedes mit teuren Regiegeldern erkaufte Quartiersmanagement leisten kann“, meint Baumert, die die Künstlergruppe berät. Warum sage der Senat nicht „Schönen Dank“ und sponsere das Projekt für drei Jahre, „bis es sich stabilisiert hat“, fragt sich die Stadtsoziologin.

Stattdessen teilte der LiFo vom Rotaprint-Gelände eine Brachfläche an der Reinickendorfer Straße ab und verkaufte sie an Lidl. Damit sind Tatsachen geschaffen worden, auch wenn die Fläche „formal für zehn Jahre zur Zwischennutzung“ angeboten wurde, wie Baumert sagt. Als ehemalige Baustadträtin von Mitte rechnet sie im Kopf die volkswirtschaftliche Bilanz durch, wie viele weitere kleine Läden im Umfeld deshalb kaputtgehen und die ehemaligen Inhaber dann beim Job-Center vor der Tür stehen.

„Jetzt läuft uns die Zeit weg“, sagt Daniela Brahm und fordert, dass die Rotaprint-Gebäude wieder aus dem Immobilienpaket herausgenommen werden und sich die Politiker ihrer Verantwortung stellen.