Die Dynamik der Gleichheit

SOZIALISMUS Der britische Sozialphilosoph Gerald A. Cohen fragte sich in seinem letzten Essay, ob das Prinzip radikaler Gleichheit wirklich von gestern ist. Posthum wurde nun die deutsche Übersetzung vorgelegt

Wer heute als Sozialist gilt, will einen etwas gerechteren Kapitalismus, wer als Kommunist gilt, will einen viel gerechteren Kapitalismus, mit globalem Keynesianismus und ein bisschen Staatsbesitz im Banken-, Energie- und Wohnungssegment. Aber so richtig Sozialismus? „Sozialismus. Warum nicht?“ lautet der lapidare Essaytitel von Gerald A. Cohen. Der Oxforder Professor für Sozialphilosophie fragt sich, ob der Sozialismus erstrebenswert und möglich ist – und starb prompt mit 68 Jahren. Die deutsche Ausgabe erscheint posthum.

In einem fulminanten Einstieg beschreibt Cohen die Szenerie eines Camping-Ausflugs. Selbstverständlich nutzt man die Gegenstände der anderen, die einen angeln, die anderen kochen, die Dritten waschen ab. „In so einem Zeltlager halten die meisten Leute (sogar jene, die normalerweise Gleichmacherei nicht ausstehen können) Normen der Gleichheit und Gegenseitigkeit für angemessen oder gar für selbstverständlich.“ Die allermeisten Menschen folgen häufig den Prinzipien der Gleichheit und einer instinktiven Reziprozität, die sich deutlich von den Austauschregeln der Marktwirtschaft unterscheiden, und würden all jene sanktionieren, die sich anders verhielten. Warum also sollte das Prinzip radikaler Gleichheit hoffnungslos von gestern, wider die menschliche Natur etc. sein?

Gewiss, so Cohen, sind nicht alle Ungleichheiten ungerecht – die eine mag Birnen lieber, der andere Äpfel. Aber die meisten Ungleichheiten sind ein moralischer Skandal und entstehen durch niedere Motive – Egoismus und Gier. Sie sind nur deshalb nicht allgemein verpönt, weil sie sich als funktional erwiesen. Aus der praktischen Erfahrung wissen wir, dass Gesellschaften Prosperität und Wohlstand schaffen können, wenn sie so organisiert sind, dass sie Gier und Egoismus anstacheln. Erhaben ist das nicht, allenfalls könne man konzedieren, das Geniale am Markt wäre, „dass er (1) niedere Motive ausnützt zur (2) Erlangung erstrebenswerter Ziele“. Aber er führe auch (3) zu unerwünschten Wirkungen, etwa der Ungleichheit.

Doch kann man positive Ergebnisse auch erzielen, ohne schäbige Motive anzustacheln und moralisch fragwürdige Wirkungen zu provozieren? Cohen hält einen Sozialismus für möglich, der die Motivationswirkung von Marktmechanismen beibehält, begrenzte Ungleichheiten zulässt, aber alle ungerechten Ungleichheiten und daraus resultierenden Privilegien und Pathologien vermeidet. Ihm schweben Modelle von Mitarbeitereigentum, verschiedenen Arten halböffentlichen Eigentums und dem kollektiven Besitz des Kapitalstocks einer Gesellschaft durch alle Bürger vor. Moralisch, darauf insistiert Cohen, spricht alles für Sozialismus. Ob sich eine egalitäre Gesellschaft, die Großzügigkeit anstachelt statt Gier, auch in funktionaler Hinsicht verwirklichen lässt, das ist für ihn weder sicher noch ausgeschlossen. Cohens Sozialismus bleibt ein skeptischer. „Unser Versuch, die Räuberei zu überwinden, ist bis jetzt gescheitert“, endet sein zeitgemäß-unzeitgemäßer Essay, der ohne dialektische Rabulistik auskommt. „Ich glaube nicht, dass Aufgeben die richtige Lösung ist.“ ROBERT MISIK

■ Gerald A. Cohen: „Sozialismus. Warum nicht?“ Übersetzt von Rainer Hank. Albrecht Knaus, München 2010, 96 Seiten, 10 Euro