Der Wind aus der Vergangenheit

Wer Bernhard Buebs neues Buch liest, reibt sich die Augen: Was ist in den einstigen Reformpädagogen gefahren? Der Ex-Rektor von Salem plädiert für mehr Mut zur Autorität in der Erziehung. Dahinter wird ein vordemokratisches Weltbild sichtbar

VON ANNEGRET NILL

Es ist Sommer. Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu. Ein 15-jähriger Schüler in psychologischer Behandlung wird zum Büro des Rektors geschickt. Er hat Angst. Die Vorwürfe an ihn lauten: „mangelnde Anstrengungsbereitschaft“, „lasche Haltung“, „Alkoholproblem“. Ihm droht der Schulverweis. Dem Rektor sagt er, dass er sein Verhalten bereue. Er fühlt sich hilflos. Da macht ihm der Rektor ein Angebot: ein Jahr in Englands strengstem Eliteinternat, einer Gemeinschaft, die bestimmt ist von Hierarchie, Disziplin und Ordnung, in der Gehorsam selbstverständlich ist. Danach darf er zurückkehren. Der Schüler nimmt das Angebot an. Er geht, kommt wieder, schafft das Abitur.

Diese Szene stammt aus Bernhard Buebs Streitschrift „Lob der Disziplin“. Sie ist eines von mehreren Beispielen für die „Heilung“ durch Disziplin, die der Ex-Leiter des Eliteinternats Schloss Salem in seinem Plädoyer für mehr Disziplin vorbringt. Er schildert sie aus der anderen Perspektive: der des Rektors.

Bei der Lektüre des Buches reibt man sich die Augen. Fragt sich, was in diesen Mann gefahren ist, der einst als einer der führenden Reformpädagogen galt. Der bei Hartmut von Hentig, dem Initiator der Bielefelder Laborschule, studierte. Und heute für die Disziplin und den Korpsgeist an strengen englischen Eliteinternaten schwärmt.

Wer Bernhard Bueb hört oder liest, ist oft zunächst angetan. Er fordert mehr Zeit für Kinder und Erziehung mit Liebe und Fürsorge. Er setzt sich für die Ganztagsschule mit kreativen Nachmittagsangeboten und für spielerisches Lernen ein. Er möchte das Selbstwertgefühl der Kinder stärken und nennt Freiheit, Gleichheit und Wahrheit als Ziele einer Werteerziehung. Wer würde da nicht zustimmen? Bald jedoch überkommt es einen kalt. Denn Bueb deutet alle Begriffe um. Das hat Methode.

Die Schulverweis-Szene beispielsweise reiht sich ein in eine Kette von Geschichten, die erzählt werden, um psychologisches Vorgehen zu diskreditieren. In denen es als wirkungslos beschrieben wird und psychologische Probleme zu moralischen umgedeutet werden. Dazu konstruiert Bueb einen Gegensatz von Disziplin und Liebe. Disziplin ist ein moralischer Begriff. Liebe ist ein Gefühl, das Bueb dem Bereich der Psychologie zuweist. Heute würden Kinder mit zu viel Liebe betrachtet und ihr Verhalten mit Hilfe der Psychologie entschuldigt. Doch sie bräuchten mehr Disziplin von Erziehern. Bueb betrachtet die Welt aus einer Perspektive, die Moral absolut setzt. Doch was genau steht dabei auf dem Spiel?

Zuerst ruft Bueb den Bildungsnotstand aus. Die Ursachen hierfür sind für ihn nicht Finanzierungsloch und föderalistische Machtspiele, verkrustete Strukturen und zu viel überholte Pädagogik. Nein, schuld am Bildungsnotstand sei die schlechte Erziehung in Deutschland. Grund für die schlechte Erziehung wiederum seien überforderte Eltern, überfürsorgliche Mütter, das Fernsehen, die Konsumgesellschaft, das charakterliche Mittelmaß der herrschenden Eliten. Resultat: Werteverfall und von der Freiheit überforderte Kinder. Also verkündet Bueb den Erziehungsnotstand.

Erziehung bedeutet bei ihm: Führung, die Gefolgschaft verlangt und durch (Charakter-)Bildung vollendet wird. Das Fundament jeder Erziehung sei „die vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin“. Autorität ist in diesem Weltbild das Resultat aus einer Mischung von Macht und Liebe. Bueb wählt als Bild der elterlichen Macht die Hilflosigkeit des Babys, das nicht alleine existieren kann. Eltern haben faktisch absolute Macht über ihre kleinen Kinder. Sie können sie fördern oder zerstören. Der Autor möchte diese Macht positiv besetzen und fordert Eltern und Lehrer auf, Freude an Macht zu entwickeln. Begründet wird die durch Liebe legitimierte Macht (Autorität) von einer Trias: der Macht Gottes, des Staates und, abgeleitet davon, der Erziehungsberechtigten.

Buebs Forderung: Eltern und Lehrer sollen ihre Autorität endlich mit Hilfe von konsequenten Strafen durchsetzen. Ordnung, Fleiß, Sauberkeit, Manieren seien die Sekundärtugenden, die auf den moralisch richtigen Weg führen. Entsprechende Verhaltensweisen müssten früh eingeübt werden, damit sie zur „zweiten Natur“ werden. Denn ein moralisch guter Mensch kann bei Bueb nur werden, wer früh an Rituale und Regeln gewöhnt wird, um über die äußere zur inneren Ordnung zu gelangen. „Erziehung ist schließlich die Kindern täglich abgerungene Überwindung ihres Egoismus und ihrer Trägheit.“ Konfliktbereitschaft heißt für ihn: Unterordnung gegen den Willen des Kindes durchzusetzen. Denn das Lustprinzip müsse überwunden werden.

Dazu ist Disziplin nötig. Den Gebrauch dieser Disziplin rechtfertigt Bueb mit dem Leistungsprinzip. Es steht an erster Stelle. Es ist die Legitimation dafür, den Kindeswillen einzuschränken. Disziplin definiert Bueb als Zwang zur Unterordnung. Er wird dem Kind von außen auferlegt. Das Ziel: Nach der Pubertät soll sie als Selbstdisziplin verinnerlicht sein. Nur dann ist der Mensch „frei“. Freiheit ist für Bueb „der Wille und die Fähigkeit, sich selbst ein Ziel zu setzen, dieses Ziel an moralischen Werten auszurichten, mit dem eigenen Leben in Übereinstimmung bringen und konsequent verfolgen zu können“. Sein Freiheitsbegriff setzt voraus, dass die antrainierte tugendhafte Haltung zur inneren Haltung wird.

Führen oder wachsen lassen, Töpfer oder Gärtner sein: Was ist der richtige Weg zu einer guten Erziehung? Diese Unterscheidung bringt Bueb selbst ins Spiel. Damit meint er den Unterschied zwischen zwei Strategien: einerseits eine Reglementierung von außen, die wie beim Töpfern das Material bearbeitet und sich so nach innen bohrt; andererseits eine Entwicklung von innen heraus, indem man Bedingungen schafft, unter denen Kinder wie Pflanzen entsprechend ihren jeweiligen Anlagen gedeihen können. Der Töpfer formt den Ton nach seiner Vorstellung. Nur dass dieser nicht lebt – im Gegensatz zu den Kindern, die Bueb formen möchte.

Buebs autoritäre Weltsicht spiegelt sich methodisch in seiner Argumentation wider. Er begründet nicht, er dekretiert. So behauptet er, die Demokratisierung der Schule sei gescheitert. Die Begründung reduziert sich auf gescheiterte Versuche in seiner eigenen Laufbahn. Des Weiteren kramt er „alte Wahrheiten“ aus der Mottenkiste wie „Der Weg zur Freiheit führt notwendigerweise durch die Unterordnung“ oder „Erziehung bedeutet Führung“. Gerne verweist er auf den griechischen Ursprung des Wortes „Pädagoge“: „Knabenführer“. Selbst mit Sprichwörtern wie „Der Appetit kommt beim Essen“ versucht Bueb seine Thesen zu untermauern.

Der Pädagoge Bueb argumentiert aus der Perspektive des Übervaters. Es ist kein Zufall, dass in seinem Buch der dritte Wert der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, durch die Wahrheit ersetzt wird. Ihr ordnet er die Tugend Ehrlichkeit zu. Indem er diese Werte austauscht, bewegt er sich von einem demokratischen zu einem autoritären System – weil so die Autorität stets Ehrlichkeit von ihren Untergebenen einfordern kann. Der Wind, der aus Buebs Buch weht, ist vordemokratisch. Er weht aus der Vergangenheit.

„In der Pädagogik gibt es keine neuen Erkenntnisse.“ Dieser Satz von Bueb fasst sein Programm zusammen. Sein „Fortschritt“ ist der Weg zurück. Sein Heil sucht er in längst überkommenen, undemokratischen Erziehungskonzepten. Kritische, mündige Bürger erzieht man so sicher nicht.