Nach dem Manipulationsverdacht

Kritik der Kritik (9): Ist der Mensch in der Gesellschaft, in der er lebt, unglücklich? Das ist seit Jean-Jacques Rousseau die alte Frage der Kulturkritik. Sie kann immer noch fruchtbar sein – wenn man sie an den aktuellen Stand der Wissenschaften anpasst

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur?Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

VON DIRK BAECKER

Wir leben im Zeitalter der Kognitionswissenschaften. Ebenso zögerlich wie faszinierend werden die Fragestellungen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften übereinander geblendet, zugespitzt und neu bewertet. Die alten Unterscheidungen zwischen Natur, Geist und Gesellschaft interessieren mehr und mehr unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Unterschiede, das heißt unter dem Gesichtspunkt, was jeweils sowohl für die Natur als auch für den Geist und für die Gesellschaft gilt.

Das hat Konsequenzen für die Kulturkritik. Immerhin, wenn die Kognitionswissenschaften so etwas sind wie die allgemeinen Wissenschaften von den intelligenten Erkenntnisleistungen der Natur, des Geistes und der Gesellschaft, dann wird die Kulturkritik entweder uninteressant, weil sie zur Erkenntnis nichts beiträgt, oder sie wird daraufhin zu befragen sein, ob und wie sie zu welcher Art von Erkenntnis etwas beiträgt. Die Frage nach intelligenten Erkenntnisleistungen ist dabei ganz konkret gemeint: Wie und von wem wird in Natur, Geist und Gesellschaft derart unterschieden, dass es dem Leben, dem Bewusstsein und der Kommunikation gelingt, sich zu reproduzieren?

Ohne etwas von diesen am Horizont des Möglichen auftauchenden Kognitionswissenschaften bereits wissen zu können, haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ von 1944 der Kulturkritik einen Weg gewiesen, der sich auf das Beste in die Fragestellungen der Kognitionswissenschaften einordnet. Ihr Begriff der Kulturindustrie, das heißt der industriellen Verfertigung der Unterhaltung von Massengesellschaften, bezieht sich zwar auf Immanuel Kant, aber Kant darf mit seiner Frage nach den Bedingungen der Selbsterkenntnis (gleich „Kritik“) von Vernunft durchaus als einer der Großväter der Kognitionswissenschaften gelten.

Horkheimer und Adorno jedenfalls halten als Ausgangspunkt ihrer Beobachtung der Kulturindustrie fest: „Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden. In der Seele sollte ein geheimer Mechanismus wirken, der die unmittelbaren Daten bereits so präpariert, daß sie ins System der Reinen Vernunft hineinpassen. Das Geheimnis ist heute enträtselt.“

Gut, Horkheimer und Adorno haben dies für den Ausgangspunkt einer nach wie vor marxistisch orientierten kritischen Theorie der Gesellschaft gehalten. Sie rechnen nicht damit, dass sich kognitionswissenschaftlich auch die Industrie eines Tages als ein „intelligenter Erkenntniszusammenhang“ erweisen würde, dem wie dem Urwald am Amazonas, dem Weiher in Brandenburg, der Adelsfamilie in Frankreich, der Seilschaft in der Politik, dem Bakterienstamm im Darm oder der Theorie in der Wissenschaft nichts anderes übrig bleibt, als sich im Rahmen der eigenen Geschichte, der eigenen Unterscheidungen, der eigenen Blindheit zu reproduzieren. Die kritische Theorie glaubte eine Adresse zu haben, an die man sich wenden kann, um gegen die schlechten Verhältnisse zu protestieren und die Möglichkeit besserer Verhältnisse einzuklagen. Das ist inzwischen geschenkt, sosehr es dabei bleiben muss, ein scharfes Auge (im Rahmen der eigenen Blindheit) auf die Geschichte, die Unterscheidungen, die Blindheiten der Natur, des Geistes und der Gesellschaft zu haben.

Aber nach wie vor bleibt die Beobachtung von Horkheimer und Adorno gültig, dass der Zusammenhang zwischen der Kommunikation von Unterhaltung, Information und Aufklärung auf der einen Seite und der Entwicklung eines mitgehenden, skeptischen und aufgeklärten Bewusstseins auf der anderen Seite kein zufälliger ist. Zwar verdankt sich dieser Zusammenhang nicht der Planung, denn dafür sind die Vorgänge auf beiden Seiten zu undurchschaubar. Aber was hier nicht geplant werden kann, ist deswegen doch nicht minder aufeinander angewiesen. „Zufall und Planung werden identisch“, sagen Horkheimer und Adorno in bestem Vertrauen auf die Dialektik der Verhältnisse.

Es geht um die Beobachtung und Beschreibung eines „Schematismus“, selbst wenn dieser kein kantischer mehr ist, sondern ein kultureller. Es geht um die Aufdeckung eines Schematismus, der insofern kultureller Art ist, als er die Einheit des Unterschieds von Kommunikation und Bewusstsein betrifft. Darauf zielt die Kulturkritik immerhin seit Jean-Jacques Rousseau, nämlich auf die Frage, ob der Mensch mit Geist und Körper in der Gesellschaft, in der er lebt, eher glücklich oder unglücklich wird. Wird er glücklich, verliert die Kulturkritik ihren Gegenstand. Wird er unglücklich, kommt die Kulturkritik zu ihrem vollem Recht.

Konservative Kulturkritiker wie der einst einflussreiche Matthew Arnold in seinem Buch über „Kultur und Anarchie“ (1869) sind deswegen an einer der ältesten aller Ideen der Gesellschaftskritik, der aristotelischen Idee der Perfektion, interessiert. Sie wollen wissen, wie man die Freiheit des Individuums und die Notwendigkeit des Staates so miteinander auspendeln kann, dass eher Glück (Swifts „sweetness and light“) als Unglück die Folge ist. Und sie ahnen, dass sie es hier mit einer Unmöglichkeit zu tun haben, woraus seither die Tendenz aller Kulturkritik folgt, die wenigen Stunden im Kreise gleichgestimmter Seelen für das Maß aller Dinge halten zu wollen. Man weiß, welch kognitiver Aufwand in die Schaffung solcher Stunden investiert werden muss und wie viel Unglück dabei in Kauf genommen wird. Und Adorno wäre der Letzte gewesen, der es zugelassen hätte, dass der Kulturkritiker sich von all dem, was er kritisieren zu können glaubt, selber ausnimmt (siehe seinen Aufsatz über „Kulturkritik und Gesellschaft“, geschrieben bereits im Jahr 1949).

Aber das ändert nichts daran, dass das Problem richtiggestellt ist, selbst wenn es nicht leicht ist, damit auch angemessen umzugehen. Ein sinnvoller, weil kognitionswissenschaftlich attraktiver Begriff der Kultur würde seither auf die Einheit der Differenz von Bewusstsein und Gesellschaft abstellen. Auf dieser Grundlage würde er die Frage stellen, welche Zustände auf der einen wie der anderen Seite der Differenz welchen Spielräumen oder Beschränkungen der Entwicklung von Bewusstsein und Gesellschaft wie in die Hände spielen. Kognitionswissenschaftlich ist daran die Annahme einer prinzipiellen empirischen Differenz zwischen der Reproduktion des Bewusstseins und der Reproduktion der Gesellschaft. Und mitzubedenken wären die ziemlich unruhig mitspielenden Differenzen zwischen diesem Bewusstsein und seiner neurophysiologischen Unterlage, dem Gehirn, sowie zwischen diesem Gehirn und dem Organismus, in den es eingebettet ist, ohne mit ihm identisch zu sein.

Schon Friedrich Nietzsche, in einem Vortrag von 1873 „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne,“ den zu publizieren er sich lange Zeit weigerte, wusste nicht, ob er angesichts der neurophysiologischen Entdeckungen der getrennten Sphären von Nervenreiz, Bild und Laut frohlocken oder verzweifeln sollte, macht dies doch die Metaphernarbeit des Sprachbildners so notwendig wie vergeblich. Die Kulturkritik könnte sich in das, was hier kognitionswissenschaftlich möglich und nötig ist, präzise einfinden, indem sie der Eigendynamik aller beteiligten Sphären ebenso wie ihrem Zusammenspiel auf der Basis einer losen, anarchischen Kopplung auf die Spur zu kommen sucht. An ihrem Begriff der Kritik könnte sie dabei sowohl im kantschen wie im gegenwärtigen Sinne festhalten. Einerseits wäre sie so eine Form der Selbstüberprüfung der Bedingungen der Möglichkeit von vergnügt unterhaltenem wie skeptisch aufgeklärten Bewusstsein – ebenso wie der sich an dieses wendenden Kulturindustrie und ihrer Redaktionsstuben. Andererseits wäre sie auch ein willkommener Beobachter, der Klebeeffekte, Verhärtungen, Vorurteile, fixe Ideen, Knotenbildungen identifizieren könnte, die das Bewusstsein stärker an die Gesellschaft und die Gesellschaft stärker an das Bewusstsein binden, als beiden lieb sein kann.

Vielleicht müsste man dies dann eher Kulturreflexion als Kulturkritik nennen. Aber es könnte in jedem Fall ein spannendes Feld eröffnen. Musik und Kino, Presse und Fernsehen, Blogs und Wikis, um nur die Massenmedien zu nennen, aber auch der Wochenmarkt in der Großstadt, die Bildschirme des Wertpapierhändlers, die Akten des Kanzleramtschefs, die Expertensysteme in der medizinischen Diagnostik, die War Games der Online Communities oder die Kriegsszenarien der Verteidigungsministerien könnten daraufhin beobachtet werden, wie es ihnen jeweils gelingt, sowohl gesellschaftlich folgenreich als auch mental attraktiv zu sein. Der gesellschaftskritische Verdacht einer allgegenwärtigen Manipulation ist zu grob und zu dumm, um der Eigendynamik dessen, was sich hier durchaus ja immer wieder durchsetzt, auf die Spur zu kommen. Was ist aus welchen Gründen für wen attraktiv: Das wäre eine kognitionswissenschaftlich unterfütterte Fragestellung, die die alte Kulturkritik in eine neue Kulturtheorie überführt und dabei nicht vergisst, den Beobachter als denjenigen, der für seine Kulturreflexion verantwortlich ist, mitzuführen.

Deswegen gibt es ja auch den Kulturteil einer guten Zeitung. Hier wird nachgezeichnet, wie Bewusstsein und Gesellschaft miteinander zurande kommen und was sie aneinander auszusetzen haben.