Das mehrfache Gedächtnis

Wie funktioniert Erinnern? Um Einschreibung und stete Umschrift des Erlebten wusste schon Freud

VON ILKA QUINDEAU

Über kaum einen Aspekt menschlichen Erlebens wissen wir bislang so wenig wie über das Sexuelle. Das mag auf den ersten Blick verwunderlich klingen, wird doch seit Kinsey in den 1950er-Jahren der gesamte Bereich des sexuellen Verhaltens sorgfältigst vermessen, werden Ejakulationen gezählt und Orgasmen minutiös aufgezeichnet. Doch das feine Zusammenspiel von körperlichen und psychischen Prozessen entzieht sich solch reduktionistischer Vorgehensweise, die auf das bloßes Funktionieren und gegebenenfalls auf deren (Wieder-)Herstellung zielt.

Dieses dichotome Denken, das Körper und Seele trennt, hat Sigmund Freud vor rund hundert Jahren mit seinen bahnbrechenden Konzepten grundlegend in Frage gestellt. Während seine Konzeptualisierung des Unbewussten als zentrales Motivationssystem des Menschen weite Verbreitung auch im Alltagsverständnis gefunden hat, sind andere theoretische Konzepte weniger bekannt – so auch das Schlüsselkonzept, das die Trennung von körperlichen und psychischen Vorgängen aufhebt und ihr Zusammenwirken fokussiert: der Modus der Einschreibung.

Freud entwickelte dieses Konzept im Zusammenhang seiner Studien zu Gedächtnis und Erinnerung; darüber hinaus erscheint es mir auch hilfreich, um die Entstehung des kindlichen Körpers im Allgemeinen und der erogenen Zonen im Besonderen besser zu verstehen. Nach Jacques Derrida erfüllt das Gedächtnis zentrale psychische Funktion, er sieht in ihm gar „das Wesen des Psychischen selbst“. So stellt das Erinnern auch im Freud’schen Theoriegebäude die Gelenkstelle dar von Innen und Außen, von materieller und psychischer Realität, von körperlichen und psychischen Prozessen.

Die zentralen Metaphern für diesen Vorgang sind die der Spur und der Umschrift. Freud skizziert die Entstehung des Psychischen lapidar mit wenigen Federstrichen in einem Brief: „Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, dass unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, dass das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt.“

Diese These von der mehrfachen Kodierung und Umstrukturierung von Gedächtnisinhalten im Sinne von nachträglichen Umschriften macht den Kern der psychoanalytischen Gedächtnistheorie aus. Doch leider hat Freud diesen vielversprechenden Ansatz nie systematisch ausgeführt, sondern ist in seinem weiteren Werk oft auch wieder hinter diese Einsicht auf die traditionellen, historistischen Abbild- und Speichertheorien des Gedächtnisses zurückgefallen. Nun gilt es also dort nochmals anzusetzen und die Freud’schen Überlegungen zu einer stringenten Konstitutionstheorie – einer Theorie zur Entstehung des Psychischen oder des „Subjekts“ – weiterzuführen.

Die Metapher der Spur, der Erinnerungsspur, verweist auf die Vorstellung, dass das, was jemand erlebt und was ihm oder ihr widerfährt, einen Niederschlag hinterlässt, der auf bestimmte Weise in die psychische Struktur und in den Körper eingeschrieben wird. Während die früheren Abbildtheorien davon ausgingen, dass die Sinneseindrücke unverändert im Gedächtnis gespeichert und ebenso unverändert wieder abgerufen werden können, bestreiten neuere Theorien diese Unveränderlichkeit und betonen die Rolle der psychischen Verarbeitung dieser Eindrücke. Erinnerungen sind keine schlichten Abbilder erlebter Szenen, sondern stellen komplexe Konstruktionsleistungen dar. Das Verhalten und Erleben schlägt sich demnach nicht einfach „so, wie es ist“ nieder, sondern hinterlässt lediglich Spuren, die auf verschiedene Weise verarbeitet werden.

Von besonderer Wichtigkeit bei diesen Konstruktionsprozessen ist der Aspekt, dass es sich nicht um eine rückwirkende Zuschreibung von Sinn zu vergangenen Erlebnissen handelt. Die Vergangenheit wird nicht willkürlich konstruiert, sondern die unbewusste, konflikthafte Dimension früherer Erlebnisse drängt zu fortwährend neuen Umschriften. Dieses psychoanalytische Modell beschreibt eine komplexe zeitliche Bewegung, die sowohl von der Gegenwart in die Vergangenheit wirkt als auch umgekehrt von der Vergangenheit in die Gegenwart.

Eine genauere Vorstellung, wie solche Verarbeitung aussehen könnte, bietet die Theorie der Interaktionsformen von Alfred Lorenzer. Diese handelt davon, wie das alltägliche Verhalten und Erleben eines Menschen – die Interaktionen – einen Niederschlag in der psychischen Struktur findet. Nach neuesten Theorietrends in der Psychoanalyse ebenso wie in der Neurobiologie würde man sagen: wie es „mentalisiert wird“.

Aus einer Vielzahl von einzelnen, ähnlichen Interaktionen, die jemand erlebt, bilden sich so genannte Interaktionsformen, das heißt Muster von ähnlichem Verhalten und Erleben. Neurobiologisch entsprechen dem vermutlich bestimmte Konstellationen von neuronalen Bahnungen oder Vernetzungen. Die Bildung von solchen Mustern und ihre Einschreibung in die psychische und die somatische Struktur beginnt bei den ersten Eindrücken eines Säuglings und erstreckt sich weiter auf die komplexen, vielschichtigen Erfahrungen im späteren Leben.

Beispielhaft für solch eine Einschreibung lässt sich die berühmte Fallgeschichte von „Monica“ heranziehen, die der Entwicklungspsychologe René A. Spitz beschrieb: Monica besaß von Geburt an eine Speiseröhrenanomalie und musste deshalb die ersten zwei Jahre über eine Magensonde ernährt werden. Die betreuenden Personen konnten das Kind daher nur mit einem gewissen körperlichen Abstand füttern. Meistens lag es flach auf dem Rücken über den Knien seiner Mutter. Im Alter von dreieinhalb Jahren fütterte Monica ihre Puppen in der gleichen Position.

Ungefähr 20 Jahre später wurde sie selbst Mutter. Sie fütterte zwar ihr Kind über den Mund, hielt es dabei aber – ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre – in genau der gleichen Position, wie sie damals als Kind beim Füttern gehalten wurde. Aber das ist noch nicht alles: Als Monicas Tochter mit ihrer Puppe spielte, stellten Beobachter bei den Hausbesuchen fest, dass auch die Tochter ihre Puppe in derselben Weise fütterte. Und als die Tochter später selber Mutter wurde, wiederholte sich dasselbe auch an ihrem Kind. Solche Untersuchungen verweisen auf ein unbewusstes Körpergedächtnis, in das früheste Interaktionserfahrungen eingeschrieben sind und die Grundlage für zukünftige Verhaltensmuster bilden. Analoge Einschreibungsprozesse werden von Entwicklungspsychologen nicht nur für solch extreme Fälle beschrieben, die auf Anomalien basieren, sondern gelten für jegliche Interaktionserfahrungen.

Im Falle der Traumatisierung jedoch entziehen sich die Spuren prinzipiell einer Umschrift. Als „Versagen der Umschrift“ – so hat Freud dies formuliert – ist das Trauma gerade dadurch gekennzeichnet, dass es eine Einschreibung in die psychische Struktur – eine Affizierung – darstellt, die nicht umgeschrieben, nicht in diese Struktur integriert werden kann, sondern als Fremdkörper bestehen bleibt. Ähnlich verhält es sich im Falle psychischer Krankheit; auch hier lässt sich ein Versagen der Umschrift feststellen, wenn auch nicht in solch prinzipieller Weise wie beim Trauma. Vielmehr stellen die Krankheitssymptome – Depressionen, Ängste oder auch Wahnbildungen – selbst eine Form der Umschrift dar, oft eine höchst leidvolle, die nach Veränderung drängt.

Neben diesen Sonderfällen lässt sich die psychosoziale Entwicklung generell als Prozess fortwährender Umschriften begreifen, die an bestimmten Knotenpunkten gebündelt werden. In der Theorie Lorenzers, die selbst zwar nicht mit den Metaphern von Spur und Umschrift arbeitet, aber trefflich damit zu verbinden ist, wäre solch ein Knotenpunkt etwa der Übergang von der sensomotorischen zur symbolischen Interaktionsform. Bei Letzterer wird das Interaktionsmuster nicht nur auf der Ebene der Sinneswahrnehmung, sondern auch auf der Ebene der Sprache niedergelegt; die Interaktionsform wird mit einem Sprachzeichen verbunden. Die oben beschriebene Interaktion des Gefüttertwerdens bekäme somit eine Bezeichnung, zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Sprachentwicklung könnte dies etwa lauten: „Mama, Essen“ oder auch nur „Essen“. Interessant an diesem schlichten Beispiel ist für sprachtheoretische Überlegungen auch, dass diese Wörter nun keineswegs einzelne, bestimmbare Gegenstände oder Personen bezeichnen, sondern eine ganze Szene, und zugleich eine Aufforderung darstellen. Aus einer Erinnerung wird somit eine Handlungsanweisung für zukünftiges Verhalten und Erleben.

Ein weiterer Bereich, der durch Einschreibung entsteht, ist die Sexualität. Auch wenn das populäre (Miss)Verständnis des Triebs im Sinne eines Dampfkesselmodells, das Freud völlig zu Unrecht unterstellt wird, allen Korrekturbemühungen beharrlich standhält, ist doch darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Begriff des Triebs um eine äußerst elaborierte Konzeption handelt, die die Dimensionen des Körperlichen, des Psychischen und des Somatischen umfasst.

Auch der Trieb lässt sich als eine Art von Erinnerungsspur auffassen, die dem Körper eingeschrieben ist. Anschaulich wird diese Einschreibung am Beispiel der erogenen Zonen. Diese sexuell besonders erregbaren Körperstellen sind nicht etwa angeboren, sondern entstehen im Verlauf der kindlichen Entwicklung durch die ganz gewöhnlichen Pflegehandlungen der Erwachsenen. Paradigmatisch steht dafür die Stillsituation: Der Mund des Säuglings wird durch die Befriedigungserfahrung des Gestilltwerdens zu einer besonders empfindlichen, erregbaren und lustspendenden Körperstelle. Die Erogenität der Mundregion bleibt über das Gestilltwerden hinaus bestehen, auch sie stellt eine Erinnerungsspur dar, durch die die Erfahrung früherer Befriedigung in den Körper eingeschrieben ist. Die Genitalien werden durch Wickeln, Baden und sonstige Pflege ebenso erogen wie zunächst „neutrale“ Stellen etwa an Bauch, Rücken oder Füßen, die individuell oft sehr unterschiedlich sind.

Zur manifesten körperlichen und unvermeidlichen Berührung durch die Pflegeperson kommt auch deren unbewussten Fantasien besondere Bedeutung zu, welche die Erogenität verstärkt beziehungsweise auf bestimmte Körperteile zentriert. Nun lässt sich gewiss einwenden, dass gerade die Genitalien aus ganz anderen Gründen besonders erregbar sind – etwa aufgrund der vielen Nervenendigungen (wobei diese vermutlich aber auch nicht zahlreicher sind als an den Fingerspitzen). Doch schließt meine Sichtweise solch mögliche erhöhte Reizbarkeit aus anlagebedingten, physiologischen Gründen auch keineswegs aus. Sie will nur deutlich machen, dass dies nicht alles ist und dass auch Bereiche, die scheinbar so naturgegeben sind wie die Sexualität, aus sozialen Interaktionen stammen. Als Einschreibung unterscheidet sich menschliche Sexualität damit grundlegend von der Fortpflanzung anderer Lebewesen – doch das wusste Freud schon vor über hundert Jahren.

ILKA QUINDEAU, geboren 1962, ist Psychoanalytikerin mit eigener Praxis und unterrichtet an der Fachhochschule Frankfurt am Main im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Zuletzt erschien von ihr: „Spur und Umschrift. Die konstitutive Bedeutung von Erinnerung in der Psychoanalyse“, Wilhelm Fink Verlag, München 2005, 244 Seiten, 39,90 Euro