Die Braut der Multis

Es gibt Tellerwäscher-karrieren. Doch an den meisten geht der Boom vorbei

AUS JUSCHNO-SACHALINSK MARCO KAUFFMANN

Galina Pawlowa strahlt Gelassenheit aus. Eine Frau, die lange gewartet hat und nun ihrem Ziel nahe ist. „Uns traute niemand zu, dass wir das Flüssiggas loswerden – jetzt sind wir beinahe ausverkauft.“ Dramatisch habe sich die Situation innerhalb von drei, vier Jahren gewandelt, sagt die Direktorin für Öl- und Gaswirtschaft in der Regionalverwaltung Sachalin. Sie spricht von Russlands erstem Flüssiggaswerk, das 7.000 Arbeiter im Süden der Insel bauen und das im Jahr 2008 den Betrieb aufnehmen soll. Käufer in Japan, Südkorea, den USA und Mexiko haben Lieferverträge über 20 Jahre unterzeichnet. Auch die Chinesen seien interessiert, sagt Pawlowa.

Bereits im Oktober startete ein internationales Konsortium, an dem der US-Konzern Exxon Mobil beteiligt ist, die Ölproduktion in Sachalin 1. Pawlowa, im roten Kostüm und weißer Bluse, schreitet durch ihr Büro an der Karl-Marx-Straße 20 und zeigt auf der Energiekarte die Zukunft. Auf Sachalin 1 und 2 (siehe Kasten) folgen Sachalin 3, Sachalin 4, Sachalin 5, Sachalin 6, Sachalin 7, Sachalin 8, Sachalin 9. Pawlowas riesiges Büro mutet wie ein kleines Museum für Öl- und Gasförderung an. Fotos von Pipelines, eine Miniölpumpe mit Motorbetrieb, Karten mit Bohrtürmchen und seismologischen Daten. Seit 30 Jahren beschäftigt sich Pawlowa mit Öl- und Gasprojekten auf Sachalin, aber erst jetzt geht es in großem Stil los. Die Inselprovinz spiele bezüglich Energiereserven in derselben Liga wie Alaska (USA) oder die Nordsee (Großbritannien), vermuten Geologen.

Der Schriftsteller Anton Tschechow beschrieb die 950 Kilometer lange Insel, deren südlichster Zipfel beinahe Japan berührt, als „Hölle“. Am östlichen Rand des russischen Reiches gelegen, von Moskau sieben Zeitzonen entfernt, wurde Sachalin von den Zaren zum Straflager gemacht. Japan besetzte den südlichen Teil von 1905 bis 1945, Stalin missbrauchte die Insel als Gulag. Seit sich die Sowjetunion aufgelöst hat, wird Sachalin allerdings umworben wie eine attraktive Braut. In der Hauptstadt Juschno-Sachalinsk wachsen neue Quartiere aus dem Boden, Kasinos, Nachtklubs, exotische Restaurants und geschlossene Siedlungen für Ingenieure und Manager. Bis die Wohnungen für Ausländer bereit sind, mieten große Firmen schon mal über zwei Jahre hinweg ein ganzes Hotel an.

In der Stadt mit 160.000 Einwohnern – aber wenig Charme – ist es schwieriger, ein Zimmer zu buchen, als in New York oder Paris. „Im nächsten Jahr steigt das Angebot um 500 Zimmer“, erzählt Shaun Going beim Essen in einem neuen, auf alt gemachten Restaurant mit georgischer Küche. Der Kanadier baute früher in Kosovo. Heute errichtet er auf Sachalin temporäre Unterkünfte für Ölfirmen, Büros und Geschäftsräume. Der Bauboom lockt Chinesen als Gastarbeiter nach Sachalin. Und nordkoreanische Vermittler bieten innerhalb einer Woche Arbeitskräfte in 100er-Einheiten. Engpässe gebe es bei der Besetzung von anspruchsvollen Stellen, sagt Going. „Ein guter Übersetzer kann mehr verdienen als ein Topingenieur.“

In Juschno-Sachalinsk haben es einige Bewohner zu Reichtum gebracht; man hört von Tellerwäscherkarrieren. Doch die Mehrheit haust in verlotterten Plattenbauten, teilweise mit Schildern, die vor herunterfallenden Balkonen warnen. „90 Prozent dieser Häuser stürzen bei einem Erdbeben ein“, schätzt Bauunternehmer Going. Stehen bleiben würden die weltläufigen Apartments der Ausländer mit ihren ebenso weltläufigen Preisen.

Galina Pawlowa, die Direktorin in der Regionalverwaltung, spricht enthusiastisch über die Energieprojekte. Dennoch ist sie mit dem, was für Sachalin herausspringt, nicht zufrieden. „Wir haben der Bevölkerung versprochen, das Leben werde besser mit der Öl- und Gasindustrie.“ Doch die meisten Erwartungen hätten sich nicht erfüllt. Die Straßen, die Umwelt, das Gesundheitswesen, vieles liege im Argen.

Der Gouverneur von Sachalin, Iwan Malachow, las der Sakhalin Energy Investment Company im Frühjahr die Leviten. An diesem internationalen Konsortium sind die britisch-niederländische Royal-Dutch-Shell-Gruppe sowie die japanischen Handelshäuser Mitsui und Mitsubishi Corp beteiligt. Sakhalin Energy beschäftige zu wenig russische Arbeiter und bilde nicht genügend einheimisches Personal aus, donnerte Malachow.

Der kommerzielle Direktor des Konsortiums, Ate Visser, hat diese Vorwürfe vermutlich schon oft gehört – und darauf geantwortet. Der Holländer in gelbem Hemd mit rosengemusterter Krawatte sagt ruhig, die Multiplikatoreffekte der Investitionen seien weitreichend und würden oft unterschätzt. Ausländische Energiekonzerne bauten für ihre Anlagen Straßen, Landepisten und andere Infrastrukturprojekte, die der Öffentlichkeit zugute kämen. Bei den Gas- und Ölförderungsprojekten strebe man an, zu 70 Prozent russische Ressourcen einzusetzen. Der Pressebeauftragte Jim Niven ergänzt: „Wir können nicht die ganze Insel managen und auch nicht jedem einen Job geben.“

Sachalins oberste Energiebeamtin kann sich einige spitze Bemerkungen über die ausländischen Öl- und Gaskonzerne nicht verkneifen. Scharf wird ihr Ton aber erst, wenn sie über Moskau herzieht. Als in den 90er-Jahren die innerrussische Gewinnverteilung ausgehandelt wurde, lautete der Schlüssel: 60 Prozent für Sachalin, 40 Prozent für die Russische Föderation. Präsident Wladimir Putin machte daraus: 95 Prozent für Moskau, 5 Prozent für Sachalin. Die Gewinnverteilung beginnt, wenn die Investitionen amortisiert sind.

„Ich bin sehr enttäuscht“, sagt Pawlowa. Nicht nur Moskau wollte an den Profit heran, auch andere Regionen. „Die glauben, wir wohnten in einem zweiten Kuwait.“ Vom Gouverneur, der mit Putin verhandelt, scheint sich die resolute Chefbeamtin nicht allzu viel zu erhoffen. Sie lädt stattdessen russische Minister nach Sachalin ein. „Die sollen sehen, wie wir hier leben.“ Die Gewinnanteile aus dem Ölgeschäft, die Moskau absauge, würden im Gesundheitswesen, im Umweltschutz und in der Alterspflege fehlen, klagt Pawlowa.

Die Lebensumstände hätten sich für die untere Mittelschicht verschlechtert, beobachtet Jeffrey Valkar, Direktor des American Business Center, eines Beratungsunternehmens, das vom US-Entwicklungshilfeprogramm (USAID) unterstützt wird. Krankenschwestern oder Beamte hätten heute höhere Lebenshaltungskosten. Vom Sog der multinationalen Konzerne profitiert hätten dagegen Büromanager, Chauffeure, Übersetzer, Hoteliers und Restaurantbesitzer. Valkar hat sein Büro wie viele andere ausländische Unternehmen im ehemaligen Hauptquartier der Kommunistischen Partei. Das größte Problem sieht der Amerikaner in der sprunghaften Entwicklung. „Wenn die großen Förderanlagen gebaut sind, werden die Investitionen abrupt stoppen.“ Das trifft auch die 7.000 Personen, die beim Bau des Flüssiggaswerks im Süden der Insel beschäftigt sind. 2008 werden die Arbeiten beendet sein. Danach wird nur noch ein Bruchteil der Arbeiter gebraucht.

Auch Galina Pawlowa erwartet einen Entwicklungsstopp. Nur glaubt sie: „Der nächste Boom wird kommen.“ Vielleicht folgen auf Sachalin 9 tatsächlich Sachalin 10 und Sachalin 11. Wie sagte sie doch: Die Japaner seien die verlässlichsten Partner, die Chinesen hingegen ähnelten den Russen. Aber: „Der Energiebedarf Chinas ist grenzenlos.“ Wie stellt sie sich die Insel in zehn Jahren vor? Als Öl- und Gasproduzentin vom Kaliber Alaskas oder gar Kuwaits? „Mindestens Alaska.“