Die ewigen Rechthaber

Gutmenschen, Moralisten und verfolgende Unschuldslämmer – die Generation Grass hat sich selbst missverstanden: nationalsozialistisch geprägt und konserviert in ihren Gewissheitswelten

VON HARALD WELZER

Die Generation der heute etwa Achtzigjährigen ist nationalsozialistisch geprägt worden und bildete zugleich den jüngsten Teil der Aufbaugeneration der demokratischen Nachkriegsgesellschaft. Diese doppelte Prägung hat tiefe Spuren hinterlassen. Bei aller intellektueller Distanz zum Nationalsozialismus kennzeichnet sie eine gewisse Starrheit im Habitus, eine Neigung zur Unbedingtheit, zum Rechthaben, zum Eindeutigen. Vielleicht ist die Generation von Walter Jens, Joachim Fest, Martin Walser oder Günter Grass gerade dort am engsten an die Vergangenheit gebunden, wo sie sich am weitesten von ihr entfernt glaubt.

Solche Bindungen sind ganz einfach zu entdecken. Bei Günter Grass etwa findet sich in seinem inzwischen legendären Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon bald nach seinem Waffen-SS-Bekenntnis der Satz, die Nachkriegszeit sei „durch eine Art von Spießigkeit geprägt (gewesen), die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hätte“. Wenig später macht Grass die Bemerkung, er habe „direkten Rassismus“ erst in amerikanischer Kriegsgefangenschaft kennengelernt; über den Dichter Paul Celan weiß er zu berichten, dieser habe unter „realen und auch übersteigerten Ängsten“ gelitten. Über seine Waffen-SS-Zeit hingegen erfährt man nichts Konkretes, allenfalls Vages.

Grass, typisch deutsch

Es werden, wie bei Grass, wie wir in unseren Studien zu deutschen Familienüberlieferungen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus gefunden haben, fast nie Details geliefert, wenn es um Einheiten, Orte und Einsätze geht. Es werden aber in der Regel auch keine erfragt. Und mit gutem Grund dringt man in solchen Momenten nicht weiter in die Zeitzeugen, würden einem Details über Ort und Art der Einsätze doch vielleicht das Bild vom guten Großvater oder aufrechten Großschriftsteller etwas zerknittern.

Den Modus, der dieses generationelle Einverständnis garantiert, haben wir in unserer Untersuchung über das deutsche Familiengedächtnis „leeres Sprechen“ genannt: Man sagt vage „das da mit den Juden“ oder „was sie da gemacht haben“ und vermeidet es tunlichst, Akteure, Ereignisse und Zusammenhänge konkret zu benennen. „Sie“, „die“, „das da“ und „man“ – solche nebulösen Benennungen machen es dem Zuhörer möglich, die Leerstelle genau mit jenem Sinn aufzufüllen, der seinem eigenen Bedürfnis entspricht. Orte, Zeiten, Personen werden im Modus des leeren Sprechens nicht genannt, und doch glaubt man, etwas über die Vergangenheit des Erzählers zu erfahren. Das mag ein Grund sein, weshalb keiner der vielen Leser der Vorabexemplare von Grass’ Zwiebelbiografie bemerkt hatte, dass hier sein Outing schon vorkam – als eigentümlich leere Formulierung, „wie mir auch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist“.

Die meisten Zeitzeugen werden freilich konkreter, wenn es darum geht, was sie selbst erlitten haben, und auch da macht Grass keine Ausnahme: Er beklagt sich nämlich über den „Schliff“ und die „Hundsschleiferei“ bei der Waffen-SS, bei der es bloß „eine unzureichende Ausbildung mit veraltetem Gerät“ gab. Der Erzähler berichtet offensichtlich im Referenzrahmen seiner damaligen Wahrnehmung: Über die Ausbildung zeigt er sich immer noch enttäuscht, der jüdische Dichter Celan erscheint ihm immer noch befremdend ängstlich, sein antispießbürgerlicher Affekt richtet sich immer noch nicht gegen das nationalsozialistische System, sondern gegen die Nachkriegsgesellschaft. Und Rassismus war ihm im „Dritten Reich“ gar nicht aufgefallen.

Wir finden dasselbe Muster in vielen Interviews mit Zeitzeugen: Einerseits befinden sie sich voll auf der Höhe eines Vergangenheitsdiskurses, der keinen Zweifel erkennen lässt, dass das „Dritte Reich“ ein verbrecherisches System war, der Vernichtungskrieg ein maßstabloses Verbrechen und der Holocaust ein Ereignis, das „nie wieder“ geschehen darf. Andererseits aber, emotional, sprechen sie vor dem Hintergrund einer gelebten Erfahrung, die ganz andere Vergangenheitspartikel in das Gesagte, Gedachte und Gefühlte einfügt.

Bar aller Selbstreflexion

Man sieht an dieser Differenz zwischen dem öffentlichen Reden und dem privaten Fühlen allgemein, dass ein einziges Bewusstsein ein Universum von Widersprüchen integrieren kann; man sieht aber auch einen frappanten Mangel an Transferleistungen – zwischen der fortdauernden Empörung über die „Verlogenheit“ der anderen und dem eigenen, sehr bewussten Schweigen etwa. Auch die Bemerkung über die Seelenlage eines jüdischen Dichters, den Organisationen wie die Waffen-SS eigentlich zur Ermordung vorgesehen hatten, zeigt, dass Moralismus gut ohne Selbstreflexion auskommt.

Diese Unfähigkeit, sich selbst zu belehren, findet sich bei vielen Angehörigen dieser Generation – Martin Walser hat sie sogar zum Programm erhoben –, und sie äußert sich in der völligen Unverbundenheit von historischer Bewertung und lebensgeschichtlichem Erzählen. Es sind dieselben fehlenden Transfers, die wir in unseren Interviews für die Untersuchung „Opa war kein Nazi“ finden, wenn ein ehemaliger SS-Mann erzählt, wie er Kriegsgefangene erschossen hat, „die so blöd waren, sich zu ergeben“, zugleich aber erschüttert über den Vernichtungskrieg und den Holocaust ist. Es sind dieselben Transfers, die fehlten, als so viele ehemalige Soldaten die sogenannte Wehrmachtsausstellung besuchten und beim Hinausgehen empört und einmütig mitteilten, so etwas habe es bei ihnen nicht gegeben.

Dabei handelt es sich nicht um Verleugnung. Es ist schlimmer: In ihrer damaligen Wahrnehmung waren sie ja nicht an Verbrechen beteiligt, sondern sie versuchten, „durchzukommen“, waren „kameradschaftlich“, blieben immer „anständig“ – eben nach den Normen der Zeit.

Was die Angehörigen dieser Generation nie begriffen haben, ist, dass sie Teil eines gegenmenschlichen Projekts waren, das es ohne ihre Teilhabe nicht gegeben hätte. Das erinnerungspolitische Zauberkunststück, sich permanent aus jenem Zusammenhang herauszudefinieren, den man zugleich „niemals zu vergessen“ behauptet, beherrschen sie mit solcher Sicherheit, dass die Frage, warum sich ganz normale Deutsche mehrheitlich in erstaunlich kurzer Zeit für die Unmenschlichkeit entschieden haben, bis heute unbeantwortet geblieben ist.

Dafür, dass diese Generation im Nationalsozialismus sozialisiert worden ist, kann sie freilich nichts, wohl aber für das nur zögernd bröckelnde Bild von einem „Dritten Reich“ ohne Nazis, einem gigantischen Gewaltausbruch ohne Täter, einer Schuld ohne Schuldige. Dieses rhetorisch überdonnerte und sozial entleerte Geschichtsbild stellt sich über die immer gleichen Konstruktionen her, dass jemand „sich in den Dienst der Nazis“ gestellt habe, sich habe „verführen“ oder „missbrauchen“ lassen.

Auch für dieses Geschichtsmodell lieferte Grass ein gutes Beispiel, als er am 14. Juli ein gutes Wort für die umstrittene Breker-Ausstellung in Schwerin einlegte. Breker nämlich habe durchaus bildhauerisches Talent gehabt, „sich dann aber von den Nationalsozialisten korrumpieren lassen, wie viele andere Künstler und Intellektuelle auch“. Diese Korrumpierung gab es nicht. Wie auch? Der Nationalsozialismus waren die Brekers, Speers, Furtwänglers und Grassens schließlich selbst.

Wenn der amerikanische Schriftsteller Louis Begley in der FAZ schreibt, er sei auch an der Ostfront gewesen, aber „nicht als Soldat, sondern als Tier, das zur Jagd freigegeben war und umgebracht werden sollte“, dann benennt er den ebenso einfachen wie ungeheuerlichen Unterschied zwischen jenen, die auf der Seite der Täter und jenen, die auf der Seite der Opfer standen. Dieser Unterschied ist nicht überbrückbar, und das haben viele aus Grass’ Generation, auch die sogenannten Gutmenschen, immer auf der richtigen Seite, nie begriffen.

Nur Gewissheitswelten

Das ist das Erbe der nationalsozialistischen Zeit: Eine Distanzlosigkeit sich selbst gegenüber, die eine Anerkennung dessen, was anderen angetan wurde, über bloße Bekenntnisrhetorik hinaus nie im Sinn und, vor allem, nie im Gefühl gehabt hat. Ein Habitus des Immer-recht-Habens, der Larmoyanz, der vollständigen Unfähigkeit zur Ambivalenz, frei von jeder Selbstironie. Totalitäre Systeme sind solche, in denen die größte Gewissheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Wer in einer Gewissheitswelt groß geworden ist, scheut Ambivalenzen wie der Teufel das Weihwasser.

Noch die Welt der 68er war völlig binär gewirkt und darin dem Nationalsozialismus viel näher, als sie selbst wahrhaben mochte. Der Fall Grass markiert nur den Abgesang einer Generation, die sich immer ganz sicher war und einem damit schon immer auf die Nerven ging.

HARALD WELZER, 48, Gedächtnis- und Erinnerungsforscher, arbeitet am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen; zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. mit Karoline Tschuggnall und Sabine Moller 2002 die Studie „Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ (S. Fischer Verlag)