HEIDEGGER UND DIE KRITIK DER WESTLICHEN KULTUR
: Versteckte Gestalten

GOTT UND DIE WELT

MICHA BRUMLIK

Seit Wochen beunruhigen bisher unbekannte Aufzeichnungen Heideggers die Öffentlichkeit. Betrachtet man Heidegger wohlwollend, so mag man ihm den Versuch attestieren, einen dritten Weg jenseits von westlich liberalem und östlich totalitärem Denken zu suchen: „Wenn die hinterste Ecke des Erdballs“, so Heidegger schon 1953, „technisch erobert und wirtschaftlich ausbeutbar geworden ist, wenn jedes beliebige Vorkommnis an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit schnell zugänglich geworden ist … ja dann greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die Frage : wozu? Wohin? – und was dann?“

Die jetzt edierten „Schwarzen Hefte“ erwähnen Juden und Judentum: „Dass die großen Propheten Juden sind“, so Heidegger nach dem französischen Philosophen François Fédier, „ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden ist.“ Welches Geheimnis?

Das Verhältnis des Judentums zur Macht beschäftigt eine der westlichen Kultur gegenüber kritische Theorie auch heute. Zum Beispiel so: „Warum der Judaismus nicht anstelle des Christentums hegemonial wurde, ist eine andere Geschichte, die mit der Konsolidierung eines jüdischen Staates nach 1948 in Verbindung gebracht werden muss und der Rolle, die JüdInnen in Komplizenschaft mit der aktuellen Machtstruktur einnehmen (z. B. in Russland ebenso wie in den USA).“ Diese Sätze finden sich bei einem der führenden postkolonialen Theoretiker, dessen Rezeption hierzulande erst begonnen hat: in Walter Mignolos 2012 auf Deutsch erschienenem Buch „Epistemischer Ungehorsam“.

Der aus Argentinien stammende Mignolo lehrt seit 1993 an der Duke University und ist dort Direktor des „Institute of Global Studies“. Er hat den Blick des postkolonialen Diskurses von Indien und Afrika auf Lateinamerika und das gewaltsame Überstülpen westlicher Denkformen auf die indigene Bevölkerung gelenkt. Damit erscheint die Renaissance, jene Zeit, in der die Entdeckung und Ausbeutung der Amerikas begann und die noch immer als die des Ursprungs von Individualität und Freiheit gilt, als Beginn einer planetarischen Machtergreifung westlich-instrumentellen Denkens. Für Mignolo besteht kein Zweifel, dass die unter tödlichen Umständen in die Amerikas verfrachteten Schwarzen sowie – zwei Jahrhunderte später – die europäischen Juden als erste Opfer der modernen Ökonomie und des modernen Staates zu gelten haben, als Gruppen, die systematisch zu entbehrlichem und nacktem Leben herabgewürdigt wurden.

Mit seiner Bemerkung zum Staat Israel teilt Mignolo mit, dass – wäre anstelle des Christentums das Judentum zur römischen Staatsreligion geworden – es keinen Staat Israel gegeben hätte: eine interessante, keineswegs triviale Überlegung. Dass er im Anschluss daran JüdInnen als „Komplizen“ einer in den USA und Russland verkörperten „Machtstruktur“ bezeichnet, rückt ihn denn doch in die Nähe Heideggers. In der Zeit vom 18. Januar zitiert Fédier Heidegger: „Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird.“ Hinter dem „Riesigen“ aber verbirgt sich nichts anderes – so Heidegger im Band 94 der Gesamtausgabe – als die „Vollendung der Neuzeit“. Also jener Epoche, die in seiner Sicht „end- und maßlos“ ist. Diese Neuzeit aber begann mit der Renaissance. So unerlässlich eine Selbstkritik des westlichen Denkens ist, so sehr ist doch diese Selbstkritik, auf der Suche nach einem Anderen, einem alles umstürzenden Ereignis, gefährdet.

Das widerfuhr auch dem von Heidegger geprägten Michel Foucault, der 1978, in einer Ausgabe des Nouvel Observateur, kundgab, dass der Islam ein Glaube gewesen sei, der seine Anhänger gegen „den Staat“ gewappnet habe, mehr noch, dass in Chomeinis Revolution eine „politische Spiritualität“ zum Ausdruck gekommen sei, die in der christlichen Welt seit der Renaissance vergessen wurde. Die Renaissance, die Amerikas, die Schwarzen und die Juden: An Mignolos – von einigen Kritikern als antisemitisch eingestufter – Bemerkung wird deutlich, dass der postkoloniale Diskurs in der Gefahr steht, den Individualismus der Renaissance und den Universalismus der Aufklärung auf westlich-instrumentelles Denken zu reduzieren.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin