Würdelos bis zum Ende

Die USA werfen Murat Kurnaz nichts vor. Dennoch hielten sie den Bremer fünf Jahre gefangen, im Käfig „wie ein Tier“

Aus Bremen Armin Simon

Er ist wieder da, in Deutschland, zu Hause, in Bremen. Murat Kurnaz, der Bremer Guantánamo-Häftling, seit Ende 2001 in Gewalt der USA, ist wieder frei. Aber noch nicht wieder hier, noch nicht angekommen. „Er kann noch nicht richtig begreifen, was da passiert ist“, berichtete gestern sein Anwalt Bernhard Docke, sichtbar übernächtigt.

Donnerstagabend, 18.20 Uhr. Über Kaiserlautern donnert eine US-Militärmaschine, ein düsengetriebenes Transportflugzeug. Sein Ziel: die Airbase Ramstein. Seine Fracht: Der Bremer Murat Kurnaz, im März 24 Jahre alt geworden, seit fast fünf Jahren im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert. Jetzt allein im Frachtraum, bewacht von 15 US-Soldaten. Sie haben ihm Hände und Füße gefesselt, ihn an eine Halteöse am Boden angekettet, seine Augen verklebt. Wie ein Stück Luftfracht. Zehn Stunden dauert der Flug, nonstop, hoch über dem Atlantik lieferte ein Versorgungsflugzeug neues Kerosin. Noch auf der Gangway in Ramstein sind Kurnaz die Augen verbunden. Selbst die Beamten der Bundespolizei und des Auswärtigen Amtes, die ihn in Empfang nehmen, sind schockiert. „Er wurde genauso transportiert, wie die Gefangenen einst nach Guantánamo gebracht wurden“, sagt Docke: „Würdelos bis zum Ende.“

Minuten später schließt Rabiye Kurnaz ihren Sohn in den Arm. „Es war die intensivste Umarmung, die ich je gesehen habe“, berichtete Docke: „Das können sich nur Menschen vorstellen, die selber Kinder haben.“

Weder Kurnaz noch seine Mutter traten gestern an die Öffentlichkeit. Sein Mandat sei „von starker physischer Natur, wach, freundlich und humorvoll“, schilderte Docke. Aber: „Man merkt, dass da noch etwas im Hintergrund passiert ist, was wir noch nicht begreifen können.“

Die USA hätten seinen Mandanten „wie ein Tier gehalten“, sagte er: „Dieser Mann hat vier Jahre und neun Monate in einem Käfig gelebt – in einer Situation, in der er nie wusste, ob er da je wieder rauskommt.“ Die Neonröhren an der Käfigdecke brannten Tag und Nacht. Auf der Rückfahrt, irgendwo zwischen Ramstein und Bremen, fährt das Auto auf einen Rastplatz. Es ist Nacht. Kurnaz steigt aus, sein Blick wandert nach oben. Sterne. Er hat sie seit fast fünf Jahren nicht gesehen. „Das ist einer von den Momenten, wo man ein Gefühl dafür bekommt, was so einem Menschen genommen worden ist“, sagt Docke.

Bahar Azmy, Juraprofessor und US-Anwalt, der Kurnaz insgesamt fünfmal in Guantánamo besucht hat, sprach gestern von „seelischer Vergewaltigung“. Das ganze System in dem völkerrechtswidrigen Lager sei „dafür geschaffen, die Gefangenen zu brechen, willen- und hoffnungslos zu machen“. Der Fall Kurnaz lege „eine der zentralen Lügen zu Guantánamo offen“. Denn die US-Regierung habe wiederholt betont, dass sie dort nur Terroristen oder direkt auf dem Schlachtfeld festgenommene Menschen festhielte, „die Schlimmsten der Schlimmsten“. Im Falle von Kurnaz räumten allerdings selbst die US-Behörden bereits im Jahr 2002 ein, dass dieser keine strafbare Handlung begangen habe. Und die Bundesregierung bestätigte, dass Kurnaz keine Verbindung zu den Taliban, zu al-Quaida oder zu sonstigen terroristischen Vereinigungen hatte. Bei Verhören im Lager, so Azmy, „hat er gesagt, dass er Terrorismus hasst“.

Dass die Bundesregierung dennoch das Angebot der USA, Kurnaz freizulassen, abgelehnt habe, sei ein „unverzeihliches politisches und moralisches Versagen“, das ein Nachspiel haben müsse, sagte Docke. Zu klären sei, inwieweit etwa der ehemalige Außenminister Joschka Fischer oder der damals für Geheimdienste zuständige Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier informiert gewesen seien oder sogar mitentschieden hätten.

Dass Letzterer nun die Freilassung Kurnaz’ begrüßte, bezeichnete Docke als „Ironie der Geschichte“.

Sorgen um Kurnaz’ Zukunft machte sich gestern das Pentagon. Man habe von der Bundesregierung „die Zusicherung erbeten, dass Mr. Kurnaz menschlich behandelt wird“.