Das Ende der großen Lösungen

Im Bauch des Industriedinosauriers: „Talking Cities – Die Mikropolitik des urbanen Raums“ in der Zeche Zollverein in Essen. Die intelligente Ausstellung handelt Städtebau vor allem als ein Problem der Zwischenräume, der Ränder, der Anbauten, der Zwischen- wie der Umnutzungen und der Plug-ins ab

Das schärft den Geist fürkleine Lösungen, für Recycling,fürs Do-it-yourself und die Umnutzung von Architekturen

von RONALD BERG

Eine Anlage, vergleichbar den ägyptischen Pharaonengräbern – von der Größe allemal: Seit 2001 darf sich die Zeche Zollverein in Essen mit dem Titel Unesco-Weltkulturerbe schmücken. Seit 1986 sind Kohleförderung und -aufbereitung in dem stadtteilgroßen Areal nur noch Erinnerung. Geblieben ist die Architektur, 1932 sozusagen aus einem Guss in neusachlicher Formensprache von den Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer aus Stahlfachwerk und rotem Backstein errichtet. Wahrzeichen der Anlage ist der in elegantem Schwung in die Höhe steigende Förderturm der Zeche. Daneben stehen etliche kleinere oder größere Bauten. Stahlgestänge verbinden die Anlagen der Kokerei, ein Wasserbecken flankiert endlos lange Fabrikfronten, Schornsteine und Silos ragen auf, und zwischen den alten Schienensträngen wächst Moos aus dem Kohlestaub.

Aber die Zeche Zollverein zeugt inzwischen nicht nur für die Vergangenheit des Montanreviers, sondern steht als Zeichen und Symbol des strukturellen Wandels im Ruhrpott. Auf dem Gelände haben mittlerweile Kunst und Design ihr neues Zuhause: Es gibt ein Designmuseum und die School of Management and Design im avantgardistischen Neubau des japanischen Architekturbüros SANAA, ein weiteres Bürohaus steht kurz vor der Fertigstellung. Produktionsstätten, Forschungszentren und Geschäfte rings um das Thema Design sollen gemäß Rem Koolhaas’ Masterplan bald folgen. Im nächsten Jahr eröffnet das kulturhistorische RuhrMuseum in der ehemaligen Kohlenwäsche. Zu betreten ist das Riesenbauwerk schon jetzt über eine äußere Rolltreppe hinauf zur 24-Meter-Ebene. Denn zunächst übernimmt „Entry“ das Gebäude.

Entry besteht aus verschiedenen Veranstaltungskomponenten und stellt die spannende Frage: „Wie werden wir morgen leben?“ Mögliche Antworten liefern gleich fünf Ausstellungen. Hier geht es etwa um zukünftige Materialien bei Möbeln oder in der Mode, um „Intelligent Living“ durch Design oder um Gestaltungfragen in der Gentechnik und im Umgang mit bits and bytes. 100 Tage lang bis zum Dezember verspricht Entry „Schönheit“, „Spannung“ und „Schöpfung“. Mit dem Großereignis scheint die Stadt Essen schon mal eine Probe auf den Titel Kulturhauptstadt Europas 2010 abzugeben. Bei Entry geht es um Design im weitesten Sinne. Doch die Gattungsgrenzen sind heute ohnehin fließend.

So auch bei der Ausstellung „Talking Cities“ auf der 17-Meter-Ebene der Kohlenwäsche. Die Schau rangiert innerhalb von Entry unter den Schlagwort „Zukunft des Wohnens“. Mitnichten aber haben Kuratorin Francesca Ferguson und ihr Projektbüro Urban Drift hier eine übliche Architekturausstellung eingerichtet. Das fängt schon damit an, dass die 35 sogenannten „Protagonisten“ der Schau – meist Künstler oder Architekten – sich mit dem Besonderen des Ortes arrangieren mussten: Die erläuternden Schriftbänder, Modelle, Installationen, Großfotos und Videos sind um die verbliebenen Rohre und Anlagen der Maschine für die Kohlenwäsche herum eingepasst. Das Ausstellungsgeschehen spielt also in einem Ambiente, das einer Kreuzung aus dem Filmset von „Metropolis“ und den düsteren Kerkerbildern eines Piranesi gleicht. Auch wegen der verdunkelten Fenster fühlt man sich wie im Bauch eines Industriedinosauriers, den allerlei rostige Gedärme und technische Organe durchziehen.

Tatsächlich macht dieses räumliche Arrangement auch die thematische Ausrichtung von „Talking Cities“ deutlich. Im Untertitel heißt die Ausstellung „Die Mikropolitik des urbanen Raums“. Ferguson, die mit einem ähnlichen Thema schon den deutschen Pavillon auf der Architektur-Biennale 2004 in Venedig ausgestattet hatte, geht es bei Architektur und Städtebau vor allem um Zwischenräume, Zwischennutzungen, Ränder, Anbauten, Umnutzungen, Plug-ins. Dieses Augenmerk regiert auch „Talking Cities“. Die Zeche Zollverein ist gleich das beste und nächstliegende Beispiel für die Relevanz des Themas: im Kleinen auf der Ebene des Ausstellungsaufbaus wie im Großen als Modell des Strukturwandels einer Wirtschaftsregion. Zollverein soll, so ist es durch die Politik geplant, „Motor“ dieses Wandels werden. Wie schon die alte Zeche, so könnte auch die neue Funktion der Gebäude als Designzentrum für „Identität“ im Ruhrpott sorgen. Damit erübrigt sich die Frage, warum man die alte Anlage überhaupt erhalten will. Die Architektur ist nicht für die Ewigkeit gebaut worden, aber es wäre Verschwendung, die baulichen Ressourcen einfach abzureißen und die vorhandene Infrastruktur verrotten zu lassen.

Etliche der vorgestellten Projekte von „Talking Cities“ befassen sich mit den Chancen von Verfall und Redundanz bei Stadträumen und Architekturen. Wie bei der Zeche Zollverein ist der Untergang der alten Funktion immer schon Möglichkeit für etwas Neues. Fergusons argumentativer Kronzeuge ist der englische Architekt Cedric Price, der bereits in den Sechzigerjahren Ansätze zur Weiternutzung alter Industrieanlagen entwickelte und Improvisation und Anpassung dabei große Bedeutung zusprach.

Zunächst gilt es aber auch für „Talking Cities“, die Lage zu klären und die Felder zu entdecken, wo aus dem Banalen oder Kaputten im Stadtraum zukünftige Potenziale wachsen könnten. Das kann bei den mitten in die Wüste gesetzten Neubaugebieten in Ägypten sein, zwischen den Autobahnschleifen hierzulande oder in den gescheiterten Großprojekten der Siebzigerjahre. Das Staatstheater Darmstadt war damals als eine Art Drive-in-Theater gebaut worden, sein ramponiertes Aussehen erinnerte bald wirklich an ein marodes Parkhaus. Mit geschickten Ergänzungen und Umbauten gelang es den Stuttgarter Architekten Lederer + Rangnarsdóttir + Oei, das Theater den heutigen Bedürfnissen anzupassen und mit dem Stadtraum zu verbinden, so dass ein Totalabriss überflüssig wurde. Ähnliche Maßnahmen ließen sich vielerorts denken. Zunächst aber macht die Ausstellung klar, dass überhaupt erst der Sinn für die Nach- und Neunutzung von Gebäuden geschärft werden muss. Im Osten Deutschlands etwa steht der Erhalt des DDR-Bauerbes nicht hoch im Kurs. Das Modell der Dresdner Prager Straße des Künstler Karsten Konrad führt schon durch die Wahl des Ortes zu einer Neubewertung des modernen Formenvokabulars. Als Material dienten Konrad weggeworfene Holzteile – auch dies Ausweis für eine neue Ethik und Ästhetik des Recycelns. Bewusstseinsbildung und ästhetische Schulung betreibt auch die Gruppe baukasten.berlin mit ihren Kartenquartetts. Hier lässt sich spielerisch die Gestaltqualität von Betonformsteinen oder Plattenbautypen entdecken. Und wiederum ließe sich die Zeche Zollverein als thematischer Referenzpunkt für die zentrale Bedeutung der Ästhetik beim Erhalt von Architektur lesen. Ohne das hübsche Bauhaus-Design wäre die Zeche als Haufen Schrott wohl schon längst entsorgt.

Aber selbst auf Brachen lässt es sich noch gemütlich einrichten, wie Thomas Lehmann und Floris Schiferli mit ihrem „Nohotel“ vorführen. Ganz falt- und zerlegbar aus Plane und mit ein paar Gerüststangen aufzubauen, ist es an jedem Ort einsetzbar. Zur (Wieder)besetzung von Raum dienen auch die „Micro-Dwellings“ des dänischen Büros N55. Eines der modularen Minibehausungen mit dem Aussehen einer Mondlandekapsel empfängt die Besucher bereits auf dem Zechengelände. Eine andere Strategie der Nutzbarmachung wählen Folke Köbberling und Martin Kaltwasser. Ihre Häuser entstehen mit gefundenem Material des jeweiligen Standortes, so auch diesmal. Mit Latten und zersägten Schrankfronten vom Sperrmüll haben sie zwischen die alten Maschinenteile einen Ausguck auf die Ausstellung gebaut. Ähnliche Ansätze lassen sich auch als Sozialprojekte durchführen, wie es die Ausstellung bei einem Selbsthilfeprojekt aus Alabama vorführt. Kostenloses Baumaterial unter anderem: alte Autoreifen.

Die Japaner haben andere Probleme. Ihnen mangelt es an Platz. In Tokio hat die Raumnot dazu geführt, komplette Häuser auf schmalsten Grundstücken von teilweise weniger als einem Meter Breite zu errichtet. Die kreative Lückenfüllung hat das Atelier Bow Wow für die Ausstellung dokumentiert. Für „Talking Cities“ ein weiteres Beispiel für einen anderen Umgang mit der Stadt angesichts der zunehmenden Versiegelung der endlichen Ressource Boden.

Auch hier regiert wieder ein Dazwischen. Die großen Lösungen wie sie bis in die Siebzigerjahre die Planungen der Urbanisten bestimmten, gehen heute nicht mehr. Es fehlt nicht nur der utopische Geist, es fehlt vor allem am Geld. Das schärft den Geist für kleine Lösungen, für Recycling, fürs Do-it-yourself und die Umnutzung von Architekturen. Diese Anpassungsstrategie hat vielleicht etwas Chinesisches. Professor Li H. Lu aus Taiwan und seine Studenten besitzen die Fähigkeit, an scheinbar beliebigem Ort eigene Strukturen zu entwickeln, die wie die Pflanzen wuchern und sich den Gegebenheiten anpassen können; die sich hier anheften dort drum herumwachsen. In der Ausstellung bilden Kanthölzer eine Art begehbare Brücke, die sich um die alten Maschinenteile windet. Von hier, aus einiger Höhe, gewinnt man Abstand und eine neue Perspektive auf den von Ferguson ausgerichteten urbanen Bazar. Li H. Lu zeigt noch einmal, wie wichtig die Anknüpfungspunkte zum vorhandenen Ort sind, der die verschrobene Konstruktion trägt. Die Statik war hierbei weniger ein Problem als die restriktiven Bauvorschriften in Deutschland und das Denken in DIN-Normen. Als Abschluss der Ausstellung gewinnt Li H. Lus Konstruktion etwas Programmatisches: Man muss als Besucher das Werk selbst begehen, muss es in der Bewegung erleben und sich dabei verrenken. Man wird zum Beteiligten und Vollender des Kunstwerks, so wie es im größeren Maßstab auch mit der Stadt passieren könnte.

Fehlt eigentlich nur noch, dass die Ansätze von „Talking Cities“ auch außerhalb der theoretischen und künstlerischen Praxis Anwendung fänden. Besonders dort, wo Strukturwandel immer noch flächendeckender Abriss bedeutet oder wo unsinnige Großprojekte buchstäblich in den Sand gesetzt werden. „Talking Cities“ ist auch ein Plädoyer für einen Städtebau von unten, auch wenn da viel Improvisiertes dabei sein müsste. Die aus Ljubljana stammende Künstlerin Marjetica Potrc nennt es Balkanisierung. In den von ihr auf dem Balkan fotografierten Mischmasch von Formen und Materialien sieht sie die Architektur der Zukunft. Die großen Würfe des 20. Jahrhunderts sind jedenfalls bislang alle an der unkalkulierbaren Zukunft gescheitert. Wer sich anpassen kann, überlebt. Bleibt abzuwarten, ob man diese Eigenschaft auch einem Dinosaurier wie der Zeche Zollverein einpflanzen kann.

Bis 3. Dezember. Magazin zur Ausstellung (Birkhäuser Verlag) 14,90 €