„Das hier ist kein Raum für Zicken“

DER KAMMERMUSIKALISCHE NEUROLOGE Heilen und heil machen, beides: Christoph Schreiber arbeitet als Arzt und er repariert alte Flügel. Dazu betreibt er einen Salon für Kammermusik, und dort sollen Musiker auftreten, die zum Niederknien gut spielen – und die Schreiber auch persönlich schätzt

■ Der Mensch: Christoph Schreiber wurde 1970 in Halle geboren, aufgewachsen ist er bei Havelberg in Brandenburg. An der Berliner Charité hat er Neurologie studiert. Schreiber lebt mit seiner Frau, einer Psychiaterin, in Prenzlauer Berg. Das Paar hat zwei Kinder, sechs und neun Jahre alt. Beide spielen Klavier.

■ Seine Jobs: Im Wochenwechsel arbeitet Schreiber am Unfallkrankenhaus Marzahn und als Impresario, Restaurator und notfalls auch als Klofrau in dem von ihm gegründeten „Piano Salon Christofori“ in Wedding. Benannt ist dieser nach dem Hammerklavierbauer Bartolomeo di Francesco Christofori aus dem Florenz des 18. Jahrhunderts.

■ Der Salon: Der Piano Salon Christofori ist einerseits eine Werkstatt, in der Flügel, vor allem historische Hammerflügel, restauriert werden. Und andererseits ein Ort, an dem sie in regelmäßig stattfindenden Konzerten gespielt werden. Am Sonntag steht beispielsweise Schubert auf dem Programm. www.konzertfluegel.com

INTERVIEW BARBARA BOLLWAHN
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Schreiber, Sie arbeiten als Neurologe, betreiben einen Klaviersalon, reparieren alte Klaviere und Flügel, haben Familie und zwei Kinder. Was kommt da zu kurz?

Christoph Schreiber: Es kommt vieles zu kurz, vor allem meine Frau und die Kinder. Als Arzt habe ich keine Vollzeitstelle, nur deshalb ist das machbar. Die Tätigkeit im Klaviersalon geht auch nur, weil es viele Freunde gibt, die zuarbeiten oder mich vertreten und weder nach Stunden noch nach Geld gucken – weil sie an die Idee genauso glauben wie ich.

Sie meinen die Idee hinter dem Musiksalon – dem Christofori-Salon, in dem Sie Kammermusikkonzerte veranstalten.

Das lässt sich vielleicht am besten mit einer geschichtlichen Referenz erklären. Es ist sicherlich der symphonischen Wiedergabe von Musik geschuldet und auch pekuniären Aspekten, dass man große Musiker nur hören kann, wenn man genug Publikum hat, wofür man große Säle braucht. Die aber sind der Kammermusik abträglich. Die Idee hinter dem Klaviersalon war, einen Rahmen zu schaffen oder wiederaufleben zu lassen, wie er üblich war. Fast alles, was gerade im 19. Jahrhundert oder auch davor an Kammermusik komponiert und uraufgeführt wurde, fand im kleineren Rahmen statt.

Sie haben eine ehemalige BVG-Halle in Wedding gemietet, die mit ihren Heizungsrohren und einem Sammelsurium an Klavieren und Flügeln und deren Bestandteilen so gar nicht einem typischen Konzertort entspricht. Warum?

In die Halle passen 199 Personen ….

Entschuldigung, wieso gerade 199?

Laut dem Versammlungsrecht sind bei losen Stuhlreihen nur weniger als 200 erlaubt … Es gibt hier eine große Nähe zwischen Musizierenden und Publikum. Wir wollten auch die Idee des historischen Konzertinstruments wieder in den Raum führen. Vor allem aber geht es mir darum, den Erlebnischarakter eines klassischen Konzerts nachfühlbar zu machen in einer Zeit beliebiger Reproduktionen. Das geht nur durch eine Fülle von Sinneseindrücken und dadurch, dass man vorher eine gewisse Verwirrung stiftet. Der Ort durchkreuzt zumindest Erwartungen. Das Besondere ist auch, dass man im Salon alles ist: vom Impresario über den Restaurator bis hin zur Klofrau.

Die Tickets werden übers Internet bestellt, ohne den Preis zu wissen. Nach den Konzerten bitten Sie um einen Mindestbeitrag, oder die Besucher geben, was ihnen das Konzert wert ist. Wasser, Bier und Wein spendieren Sie. Das klingt nach sehr viel Idealismus.

Bei den Musikern gehört extrem viel Idealismus dazu, und es ist sehr, sehr dankenswert, dass sie das machen. Sie bekommen neben der Gage, die beileibe nicht so hoch wie andernorts ist, einen sehr engen Kontakt zum Publikum. Das Publikum ist nur deshalb da, um den Musikern zuzuhören. Hier kann man nicht mit dem Staatssekretär hinterher Champagner trinken.

Sie haben Medizin studiert und sind Neurologe. Schlagen zwei Herzen in Ihrer Brust?

Das hört sich für mich zu plakativ an. In unserer heutigen Zeit unterliegen wir einem unglaublichen Spezialisierungsdrang, möglichst gut in einer Sache zu sein und nichts nebenher zu machen, und in dieser einen Sache möglichst 70 Stunden in der Woche zu arbeiten. Mit Mitte 40 muss man sich natürlich auch überlegen: Was bleibt dann vom Leben? Die Bewusstheit für die Einzigartigkeit der Erfahrung und auch die Unwiederbringbarkeit jeder Erfahrung wächst mit jedem Tag und auch das Bewusstsein darüber, dass die Möglichkeiten schwinden. Vor diesem Hintergrund ist es schön, sich mehreren Dingen widmen zu können.

Ihre Eltern sind beide Ärzte. Was war bei Ihnen zuerst da: die Liebe zur Musik oder zur Medizin?

Meine Eltern sind im Zweitberuf Ärzte. Meine Mutter ist berentet, mein Vater arbeitet noch als Landarzt.

Ach, welche anderen Tätigkeiten üben Ihre Eltern denn noch aus?

Meine Mutter ist noch Philologin, mein Vater Physiker.

Hat das Ihre Zweigleisigkeit beeinflusst?

Es gab bei uns zu Hause neben der Schule eine sprachliche und eine musische Erziehung. Ich hatte Klavier- und Orgelunterricht und habe im Chor gesungen. Vor etwa 15 Jahren fing ich an, mich sehr für Kammermusik des 20. Jahrhunderts zu interessieren. Bis ich 14, 15 Jahre alt war, wollte ich unglaublich gern Musik studieren. Aber bald war klar, dass es nicht reichen würde, ganz vorne mitzuspielen. Da war Medizin eine gute Alternative.

Warum?

In der Medizin kann man viel mit Fleiß machen, gesundem Menschenverstand und Lernen. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als bei der Musik, gerade, wenn man konzertant tätig sein will. Ich ziehe da wirklich den Hut vor vielen Musikern, die aller Anspannung zum Trotz so Unglaubliches leisten können. Als würde man die Latte beim Hochsprung immer auf mindestens zwei Meter legen, und da muss man dann drüber, jedes Mal.

Warum haben Sie sich bei der Medizin für die Neurologie entschieden?

Das war Zufall. Ich hatte mit Psychiatrie und Psychotherapie angefangen. Dann kam die Rotation in die Neurologie, und das hat mir plötzlich viel mehr Spaß gemacht.

Fällt es Ihnen schwer, zwischen den beiden Tätigkeiten umzuschalten?

Gar nicht.

Warum ist das so gar kein Problem?

Ich bin kein Spezialist, sondern ein durch und durch mediokrer Mensch, dessen größtes Vergnügen es ist, sich mit verschiedensten Dingen zu beschäftigen und in sie einzutauchen, ohne sich ihnen ganz verschreiben zu müssen.

Wie teilen Sie die zwei Tätigkeiten auf?

Ich habe einen sehr duldsamen Chef, der mir viel freie Hand lässt und dem ich zu großem Dank verpflichtet bin. Er hat mir ermöglicht, eine Woche zu arbeiten und eine Woche freizuhaben. Wenn ich in der Klinik bin und es am Abend Konzerte gibt, ist es ein bisschen schwierig. Dann sehe ich die Kinder nicht viel und habe eher wenig Schlaf.

Erlaubt Ihnen der Verdienst als Arzt, Ihrer Leidenschaft für den Klaviersalon und die Musik nachzugehen?

Durch die Arbeit als Arzt kann ich mein Leben und das meiner Familie ermöglichen. Der Klaviersalon trägt sich im Wesentlichen selbst, aber nicht immer. Wir machen im Jahr ein fünfstelliges Minus.

Wovon bezahlen Sie das?

Aus meiner Tasche, aus der Tasche meiner Familie und von Freunden. Ab und an nehme ich auch Auftragsreparaturen an.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Musiksalon ins Leben zu rufen?

Um Konzerte ging es am Anfang gar nicht. Ich hatte nach dem Medizinstudium angefangen, mich für Flügel zu interessieren, und brauchte Platz. In dem Haus in Prenzlauer Berg, wo ich damals wohnte, gab es eine leer stehende Ladenwohnung, und schnell hatte ich die ersten Flügel. Dann waren Sachen dran zu machen, und der Klavierstimmer war sehr teuer für sehr wenig, was er gemacht hat. Das fand ich nicht gerechtfertigt. Ich fing aus pekuniären Gründen an, mich damit zu beschäftigen. Irgendwann lag es nahe, so etwas zu machen wie in der Maison Erard in Paris um 1830, eine der Fabrikation angegliederte Konzerthalle in Salonformat. Das Konzept gab es, und es war nicht so schwierig, es wiederaufleben zu lassen.

Vom Reparieren von Klavieren und Flügeln hatten Sie aber erst einmal keine Ahnung.

Es gibt viele Bereiche, die wie Schlüssellöcher sind. Wenn man hindurchspäht, eröffnet sich dahinter eine völlig neue Welt. Ich habe viel gelesen, habe Restauratoren und Klavierbauer kennengelernt und mit Fragen gelöchert.

Sitzt Ihr verständnisvoller Klinikchef ab und an im Publikum?

Nein. Ich glaube, der hat zu viel um die Ohren. Aber es sitzen viele Kollegen hier, und es ist erstaunlich, welche Fachrichtungen so kommen.

Ach, was gibt es denn da für Unterschiede?

Es sind vor allem die Kopffächer: Neurologen und Psychiater. Auch Gynäkologen. Die Fachrichtung, die aber am meisten vertreten ist, sind Handchirurgen. Ich glaube, die haben diese Affinität zu den Fingern und deren Beweglichkeit.

Hören Sie eigentlich ausschließlich klassische Musik?

Wenn ich Musik höre, ist das in der Regel Lied oder Barockmusik. Das klingt jetzt bestimmt wahnsinnig überheblich: Aber wenn meine Tochter beim Autofahren das Radio anmacht, denke ich manchmal, Kind, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? In einem Popsong gibt es drei verschiedene Harmonien, das ist rhythmisch und melodisch langweilig. In zwei Takten Schostakowitsch oder Bach passiert mehr als in zwei Stunden Popmusik.

Während längst nicht alle Nervenkrankheiten heilbar sind, lässt sich selbst ein uralter Flügel reparieren. Hilft Ihnen die Musik, medizinische Grenzen besser zu akzeptieren?

Ach, es ist immer ein Problem, wenn es Situationen gibt, in denen man wenig machen kann. Ich könnte nicht sagen, dass ich mir dann gezielt Musik anhöre. Das macht das Aushaltenkönnen nicht besser. Was die Musik in meinem Fall aber wirklich kann, ist, dass sie entspannt. Sie ist für mich eine der höchsten und ausgefeiltesten Kunstformen, weil sie einen aus der Zeitachse reißt.

Was meinen Sie damit?

Wir sind ja nie wirklich im Moment. Wir denken über Dinge nach, die passiert sind, und über Dinge, die kommen. Das schmälert den Erlebnischarakter des Moments sehr stark. Wenn man der Musik wirklich zuhört, die Augen schließt und sich reinfallen lässt, folgt man einem bestimmten Rhythmus, einer bestimmten melodischen und harmonischen Linie, quasi einem Diktat. Nur wenn man ihr ganz und gar folgt, ist man dabei. Dann ist im Rest des Seins wirklich Ruhe.

Sie machen keine Werbung für die Konzerte. Warum eigentlich nicht?

„Das Publikum ist nur deshalb da, um den Musikern zuzuhören. Hier kann man nicht mit dem Staatssekretär hinterher Champagner trinken“

Ich mache das ganz bewusst nicht, weil ich nicht möchte, dass der Salon bekannter wird. Mehr Publikum kriegen wir sowieso nicht unter, und es soll keine Mainstreamgeschichte werden. Ich möchte ein ausgesuchtes Publikum, das zu goutieren weiß, was hier passiert. Das kriegt man im Wesentlichen über Mundpropaganda.

Wie soll sich der Salon weiterentwickeln?

Ich wünsche mir, dass er finanziell irgendwann auf relativ sicheren Beinen steht und es keine Zitterpartie mehr gibt, ob ich die Weinlieferung bezahlen kann. Dann würde ich mir wünschen, dass endlich der Fluglärm aufhört und man auch mehr seltene und intellektuelle Programme machen kann.

Kommt Ihr Idealismus gelegentlich an seine Grenzen?

Es gibt Momente, wenn ich 100 Mails am Tag kriege mit speziellen Sitzwünschen oder wenn es keine Plätze mehr gibt und 30, 40, 50 Leute unbedingt da oder da sitzen wollen. Dann denke ich schon mal: „Jetzt haue ich die Flügel auf den Müll!“ Es wäre sicher anders, wenn ich davon leben würde. Da das nicht so ist, ist die Motivation eine rein emotionale. Und es ist schön, dass dieser sehr idealistische Geist dahintersteht.

Suchen Sie die Musiker ausschließlich nach Ihrem eigenen Geschmack aus?

Absolut. Ich habe zwei Freunde – einen Pianisten und einen Musikwissenschaftler –, die ein uneingeschränktes Mitspracherecht haben. Ich muss die Musiker persönlich mögen. Das hier ist kein Raum für Zicken.

Wenn jemand zum Niederknien gut spielt, Ihnen aber nicht sympathisch ist, wird er nicht eingeladen?

Es gibt durchaus Pianisten, die zum Niederknien spielen, die ich aber nie wieder spielen lassen würde. Der ganze Laden existiert durch eine Attitüde der Dankbarkeit und der gegenseitigen Wertschätzung: des Publikums für die Musiker, der Musiker für das Publikum, meinerseits für die Musiker und für das Publikum, seitens der Musiker für meine Arbeit und die meiner Freunde, die mitmachen. Hier gibt es nur einen künstlerischen Anspruch und sonst gar nichts. Wer dazu nicht in der Lage ist, passt hier nicht hinein.

Kommen die Musiker von sich aus auf Sie zu?

Ich spreche niemanden an. Viele kommen zu einem Warm-up vor einer CD-Aufzeichnung oder einem anderen Konzert. Viele kommen aber auch, weil die Atmosphäre so schön ist. Mittlerweile gibt es Konzerte, die auf absolutem Weltspitzenniveau sind oder national auf sehr, sehr hohem Niveau.

Empfinden Sie das als Bestätigung?

Es geht nicht um Bestätigung. Ich habe kein Alleinstellungsmerkmal gesucht, sondern nach etwas, was ich kann und wozu ich mich in die Pflicht genommen fühle.

Gibt es bestimmte Pläne für dieses Jahr?

Wir planen ein Kammermusikfestival im September mit Weltklassestreichern- und pianisten, aber es hapert noch an der Finanzierung.

Ist es schwierig, Geldgeber zu finden?

Die Reaktionen sind immer erst einmal verhalten. Aber ich bin guter Hoffnung. Berlin hat unwahrscheinlich viele Übernachtungsgäste und einen unfassbaren Fundus an hier in der Stadt lebenden Musikern. Weltklassemusikern. Das muss man alles zusammenbringen. Ich finde, ein Kammermusikfestival würde der Kulturlandschaft der Stadt gut stehen.