Der Schnuller wird 60: Das kleinere Übel

Vor sechzig Jahren erfanden zwei deutsche Mediziner den Schnuller - ein Suchtmittel für Säuglinge und Eltern. Die Entwöhnung wird oft zum Machtspiel zwischen den Generationen.

Wie jedes Beruhigungsmittel kann auch der Schnuller zum Missbrauch führen. Bild: dpa

Der Schnuller wird 60 Jahre alt. Die Idee allerdings soll es schon im alten Ägypten gegeben haben. So steht es gern in Verkaufskatalogen, Herstellerstudien und sogar bei Wikipedia. Eine genervte ägyptische Mutter soll ihrem Kind 2.000 Jahre vor Christi Geburt eine Tonfigur in den Mund gesteckt haben. Vorher hat sie die Figur noch mit Honig vollsaugen lassen. Genial die Idee, aber stimmt sie auch?

"Keineswegs", sagt die Archäologin Caris-Beatrice Arnst vom Ägyptischen Museum in Berlin. "Diese Figürchen waren schlicht und einfach Spielzeuge." Archäologen haben bisher nichts gefunden, was sie als Schnuller interpretieren. Auch der Kieferzustand vieler Mumien spreche dagegen, dass Tonfiguren über einen längeren Zeitraum gelutscht wurden.

Also wird der Schnuller doch 60. So wie wir ihn heute kennen, wurde er in Deutschland kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Adolf Müller, einem Zahnarzt, und seinem Kieferorthopädiekollegen Wilhelm Bartels erfunden. Die Erfindung sollte dem instinktiven Saugbedürfnis des Säuglings nachkommen, ohne dass dessen Kiefer durch den Daumen oder andere Sauggegenstände verformt werden. Deshalb tauften die beiden Erfinder das Ding, das heute auch Nuki heißt, erst einmal: "natürlicher und kiefergerechter Beruhigungssauger und Kieferformer".

Die Erfindung ist heute kaum wegzudenken. Unumstritten ist sie allerdings auch nicht. Der Kieferorthopäde Paul-Georg Jost-Brinkmann von der Berliner Charité findet, dass die Erfinder etwas fahrlässig waren, als sie den Schnuller zum einen natürlich, zum anderen kiefergerecht und kieferformend nannten. "Natürlicher als der Daumen ist der Schnuller schon mal gar nicht", sagt Jost-Brinkmann, Kieferformer jedoch sei er schon - leider in die falsche Richtung.

Warum das so ist, erklärt der Arzt so: Die Zähne werden von Lippen, Wangen und Zunge gedrückt und nehmen dadurch ihre natürliche Form an. Kommt ein Fremdkörper, der Schnuller, dazu, drückt die Zunge nicht mehr gegen den Gaumen, wie von der Natur vorgesehen, sondern sitzt am Unterkiefer fest. Das Ergebnis: Unter- und Oberkiefer wachsen nicht gleichmäßig. Jost-Brinkmann kann sich trotzdem nicht radikal gegen den Schnuller aussprechen, weil Schnullerlutschen immerhin besser ist als Daumenlutschen. "Er ist das kleinere Übel".

Doch was ist mit dem Lutschen an sich? Der Kinderpsychiater, Andreas Wiefel, hält das Saugen für überlebenswichtig. Sogar im Mutterleib saugt das reichlich mit Kalorien versorgte Baby an seinem Daumen. Der funktionale, auf das Wachstum der Zähne gerichtete Schnuller dient ganz nebenbei auch dem Wohlbefinden des Säuglings und der Spannungsreduktion - des Kindes und der Eltern.

Genau darin besteht das Problem: Wie jedes andere Beruhigungsmittel kann der Schnuller zum Missbrauch führen. Überforderte Eltern oder solche, die Schwierigkeiten haben, ihr Kind anzunehmen, greifen schneller und öfter zum Schnuller. Kinder, die gemerkt haben, dass vom Schnuller ein besonderes Wohlbefinden ausgeht, verlangen häufiger nach ihm.

Es ist ein Machtspiel, über dessen Ausgang meist die Eltern entscheiden. Wenn ein satter, trockener Säugling trotzdem schreit, sollten Eltern das zum Anlass nehmen, zunächst seinen Gemütszustand zu klären. Dabei sollte Zuwendung der erste Schritt sein, rät Wiefel, der nicht nur als Psychiater, sondern auch als Familientherapeut an der Berliner Charité arbeitet.

Doch auch er kann sich nicht radikal gegen den Schnuller aussprechen: "Er ist ein sehr gutes Mittel, das Kind und Eltern hilft, in Spannungssituationen eine Auszeit zu setzen. Dabei sollte es aber auch bleiben."

Laut Wiefel hat der Schnuller noch einen weiteren Vorteil, denn durch ihn werde das biologische Bedürfnis nach Essen vom psychischen Saugbedürfnis abgekoppelt. Entspannung und Essen bleiben durch den Schnuller getrennt. Das Kind lernt nicht, seine Unwohlgefühle durch Essen zu überwinden.

Wie die Gewöhnung an den Schnuller ist die Entwöhnung ebenfalls ein Machtspiel zwischen Kind und Eltern. Und auch hier entscheiden Erwachsene über den Ausgang. "Der dritte Geburtstag ist ein guter Anlass, den Schnuller abzusetzen", sagt Jost-Brinkmann, denn bis zu diesem Zeitpunkt können die Kiefer von selbst wieder ihre normale Form annehmen. Später wird die Entwöhnung schwieriger, Jost-Brinkmann spricht sogar von Entzug.

Auch der Kinderpsychiater Wiefel findet den Termin gut. Später könnten sich weder Kind noch Eltern leicht vom Schnuller trennen. Er kann einen Zusammenhang zwischen langem Schnullergebrauch und späterem Rauchen oder anderen oralen Ersatzbefriedigungen nicht ausschließen.

Der Schnuller bleibt aber weit davon entfernt, die Brust zu ersetzen. "Babys können den Schnuller oder die Flasche nicht bevorzugen. Die genetische Prägung treibt sie zur Mutter. Die Entscheidung zum Stillen liegt in der Hand der Eltern", sagt Wiefel. Für die Archäologin Arnst ist jedenfalls klar: die ägyptische Mutter hat ihr schreiendes Kind einfach in den Arm genommen.

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