Die neue Ökologie des Sozialen

Künftige Lieben (3). Die materiellen Grundlagen von Ehe, Familie und Beziehungen haben sich radikal geändert. Das fördert die Suche nach neuen Formen der Gemeinschaft

Wohngemeinschaften sind – nicht nur im Alter – zur neuen bürgerlichen Lebensform geworden

Es hat sich eigentlich gar nicht so viel geändert, das aber auf eine fundamentale Art und Weise. Auch „künftige Lieben“ werden ihre anfänglichen Gefühle überschätzen; sie werden weiter darauf hoffen, miteinander glücklich zu werden; und sie wollen ihrer Verbindung eine nach außen erkennbare Gestalt geben, sie in gemeinsamen Projekten und Projektionen verobjektivieren.

Und doch wird alles ganz anders sein. Wo einmal Norm und Normalität und die Abweichungen davon trennscharf markiert werden konnten, sind heute schon die entsprechenden Begriffe (alte Jungfer, Hagestolz) aus der Sprache verschwunden. Wo einst klare Rollen Sicherheit gaben, müssen jetzt Vereinbarungen ausgehandelt werden: Die ungeschriebenen Familienverträge sind im Alltag längst wichtiger als formelle Eheverträge. Wo über Jahrhunderte hinweg Institutionen und „Außenhalte“ aller Art Stabilität gegeben oder wenigstens vorgetäuscht haben, sind die Menschen jetzt auf sich selbst gestellt.

Das alles ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Rahmenbedingungen aus früheren Zeiten erschweren den Übergang zu neuen Mustern, in denen Entfaltung, Bindung und Verantwortung neu ausbalanciert werden können. Für die persönlichen Beziehungen, aber auch für die Entwicklung der Gesellschaft wird viel davon abhängen, ob diese Veränderungen nur als Verfall oder auch als Freiheitsgewinne verbucht werden, hinter die es kein Zurück mehr geben wird – und auch nicht geben sollte.

Die Stimmigkeit des linearen Lebens in der Industriegesellschaft kam im Wesentlichen aus zwei Quellen: aus der männlichen (!) beruflichen Normalbiografie nach dem Motto „Ein Leben, ein Beruf, eine Sicherheit“. Die „monogame Arbeit“ (Peter Groß) entsprach dem Ideal der monogamen Ehe, beides ein Leben lang. Die Realitäten haben sich hier wie dort geändert, und viele sehen das Ende aller Sicherheiten und den Zusammenbruch der Gesellschaft kommen.

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass sich Familien und darüber hinaus persönliche Beziehungen tiefgreifend verändern. In der Agrargesellschaft umfasste die Familie nicht nur die Blutsverwandten, sondern das „ganze Haus“. Die Familie war vor allem eine ökonomisch-rechtliche Organisation: Man heiratete, um Besitz und Eigentum zu sichern und zu erweitern. Mit der industriellen Trennung von Arbeit und Leben, Betrieb und Familie setzte sich eine sozialrechtliche Konstruktion der Familie durch: Man heiratete, um eine Familie zu gründen und diese arbeitsteilig zu organisieren. Dieses institutionelle Ehe- und Familienbild, dem sich alle und alles unterzuordnen hatten, wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts abgelöst durch ein kindorientiertes Familienverständnis: Man heiratete, um Kinder zu haben. In den 1970er-Jahren hat sich ein partnerorientiertes Familienverständnis durchgesetzt hat: Man heiratet (oder auch nicht), um ein erfülltes Leben zu haben, um sich als Person zu entwickeln.

Das ist eine neue Entwicklung. Äußere Merkmale, Kinder ausgenommen, sagen immer weniger aus über die Qualität einer Bindung oder Beziehung. Was die Gegenwart zeigt, ist die Vergeblichkeit aller Versuche, Ehe und Familie als Institution durch den Staat gleichsam von oben oder von außen zu stärken. Die Stärke „künftiger Lieben“ und die Dauerhaftigkeit von Beziehungen kommen von innen, aus starken und deshalb bindungsfähigen (jungen) Frauen und Männern, die ihren „Familienvertrag“ immer wieder neu aushandeln und sich dabei beide um die ökonomischen wie um die emotionalen Dinge kümmern.

Zu den Bedingungen der Vergangenheit werden Ehe, Familie, überhaupt tragfähige Beziehungen in Zukunft in der Regel nicht mehr zu haben sein. Doch das ist noch lange kein Grund, alle Hoffnung fahren zu lassen und das Schreckensbild einer atomisierten Gesellschaft an die Wand zu malen. Ganz im Gegenteil: Aus der Mitte von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kommen Entwicklungen, die darauf hinauslaufen, dass sich Ökonomie und Ökologie von Familien, menschlichen Beziehungen und sozialen Netzen auf durchaus positive Weise ändern werden.

So verliert mit dem Wandel der Arbeitswelt nicht nur die traditionelle Familie, sondern auch das Patriarchat seine ökonomische Basis. Immer weniger (Ehe-)Männer können einen Familienlohn versprechen, und das für ein ganzes Leben. Familien brauchen mehr als ein Einkommen, um auf Dauer sicher und gut leben zu können. Das wird die Geschlechterbeziehungen verändern und gleichsam durch die Hintertür mehr Partnerschaft in die Beziehungen und mehr Rücksicht auf Familien in die Gesellschaft bringen.

Des Weiteren treiben die raueren wirtschaftlichen Verhältnisse über die Kleinfamilie hinaus in neue Gemeinschaften. In seinem neuen Buch „Die Ausbeutung der Enkel“ beschreibt Kurt Biedenkopf eine Perspektive, die viel mehr an das „ganze Haus“ der vorindustriellen Zeit erinnert als an die Kernfamilie: „Es gibt keine aufwendigere Form des Lebens als die in kleinen und Kleinsthaushalten. Nirgends sind die Fixkosten einer angemessenen Lebensführung höher als im Einpersonenhaushalt. Außerdem: Es ist auf die Dauer schöner, in Gemeinschaft zu leben, vor allem, wenn man älter wird. Die Privathaushalte der Zukunft können als wirtschaftliche Einheiten über die Grenzen der Familie hinausgreifen, sei es, dass sich drei Generationen wieder wirtschaftlich zusammentun, sei es, dass sich Haushalte auf die Verwandtschaft ausdehnen.“ Wohngemeinschaften, einst eine Innovation der studentischen Avantgarde, werden zu neuen bürgerlichen Lebensformen nicht nur im Alter.

Das Patriarchat hat seine Basis verloren. Das öffnet die Tür für mehr Partnerschaft in den Beziehungen

Nicht nur die Ökonomie, auch die Ökologie der privaten Lebenswelten wird sich spürbar ändern. Die Emanzipationsbewegung hat neue Freiheiten gebracht, aber sie hatte auch ihren Preis. Die Kinder der Eltern von damals haben beides erlebt: den Gewinn, aber auch die Kosten der neuen Freiheit. Das Pendel schwingt nicht einfach zurück, aber es dürfte doch eine neue Balance finden zwischen Selbstverwirklichung und Verantwortung, Eigensinn und dem Wunsch nach Verlässlichkeit.

Individualisierung als Gesellschaft der Ichlinge zu beschreiben war stets ein Zerrbild. Aber es wird künftig doch darum gehen, jenseits der Individualisierung Gemeinschaft möglich zu machen. Vielleicht ist dies sogar Ausdruck und Motor eines neuen Zeitgeistes: Die Sinne dafür, dass Freundschaft und Liebe, Verantwortung und Verlässlichkeit, Rücksicht und Empathie knappe und also kostbare Güter sind, sind sensibler geworden.

Eine ähnliche Entdeckung hat vor über dreißig Jahren einen Paradigmenwechsel eingeleitet und die erste Umweltbewegung ins Leben gerufen. Vielleicht ist die Zeit reif für eine neue, diesmal sozialökologische Umweltbewegung. Das Private ist nicht einfach politisch. Aber ohne eine politisch gewollte Ökologie des Sozialen, die das große Ganze im Blick hat, werden auch die scheinbar privaten Lebensgemeinschaften nicht blühen und gedeihen. WARNFRIED DETTLING