Das unfassbare Denkmal

KULTURLANDSCHAFT Wasserwirtschaft und Bergbau: Zusammen erhielten sie im Oberharz eine Auszeichnung als Weltkulturerbe von der Unesco. Gut für das Selbstbewusstsein

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Es ist Nachmittag, die Fichten ächzen im Wind und honigsüß duften die Blumen auf der Terrasse des Polsterberger Hubhauses mitten im Oberharz. Eben noch hatte die Wirtin mit routinierter Höflichkeit die Bestellung aufgenommen – da erkennt sie ihren Gast: „Ich freue mich so, dass Sie da sind, Herr Roseneck!“, ruft sie da, so herzlich, so überbordend, als wäre der Landesdenkmalpfleger ein lang ersehnter Erlöserprinz, „Glück auf, Herr Professor!“

Reinhard Roseneck lächelt müde und macht eine etwas abwiegelnde Handbewegung. „Ja“, sagt er, und noch einmal, „ja, so“. Die Begeisterung muss er aushalten. Und nicht nur jetzt hier oben: Schon am Morgen, unten im Kloster Walkenried, wo im 13. Jahrhundert alles angefangen haben soll, Schulterklopfen, später im Betriebshof Clausthal oder auch vorhin, in Sankt Andreasberg, an der Silber-Grube Samson, die hat schon Goethe besuchen müssen. Überall Glück auf, Herr Roseneck!, strahlende Gesichter, funkelnde Augen: „Haben wir’s doch geschafft!“ Weil ja alles mit dazu gehört, zum Unesco-Welterbe, seit dem 1. August.

Balsam für die Harzer Seele

An dem Tag hat die Kommission in Brasília das Oberharzer Wasserwirtschaftssystem auf die Liste gesetzt. Deren laufende Nummer 632 umfasste bis dahin Goslar und den Rammelsberg, eine Ikone des Bergbaus. Jetzt sind noch weite Teile der Landkreise Goslar und Osterode dazugekommen. Die Entscheidung fiel einstimmig. „Bestätigt zu bekommen, dass man auf Augenhöhe mit den Pyramiden von Gizeh steht“, sagt Bernhard Reuter, Landrat von Osterode, „das war Balsam für die geschundene Seele der Harzer.“

Die hatte das nötig: Viele Gastro- und Übernachtungsbetriebe nennen sich hier „Kleintirol“ „Bavaria Alm“ oder „Haus Edelweiß“, so viel nur zum Selbstbewusstsein. Das färbt ab: Mehr als ein Reiseführer schwärmt von den „klaren Gebirgsseen“. Davon gibt’s hier keinen einzigen: Das sind alles Welterbebadeteiche, also Teile des Systems der seit dem 16. Jahrhundert angelegten Regen-Sammelbecken, oft in Kaskaden von drei oder vier Zisternen übereinander.

Von denen aus gelangt das Wasser über kilometerlange Gräben bis dorthin, wo es im Bergbau gebraucht wurde. Als Antrieb, mitunter für Fahrkünste, die, wie ein unbequemer Paternoster, die Arbeiter in den Schacht beförderten, und für Pumpanlagen: Hauptaufgabe der Wasserräder war es, die Mechaniken in Gang zu halten, die das einsickernde Grundwasser aus den Schächten beförderte. Sonst wären die eingestürzt und die Hauer ertrunken: mit Wasser gegen das Wasser.

Am schönsten zu Fuß

Am schönsten wäre es zu Fuß, die Wege führen immer entlang der Kanäle, die Grabenwärter mussten die ja abgehen, die Leute vom Betriebshof tun das heute noch, Angestellte der Harzwasserwerke. Die stecken jährlich 1,3 Millionen Euro in den Unterhalt der Anlage. Doch selbst per Auto lässt sich immer nur ein winziger Ausschnitt ansteuern: die Granit-Stelen am Oderteich, bauliche Details des Dammgrabens oder unterschiedliche Typen von Striegelhäuschen: Das sind Bretterbuden, manche steh’n auf dem Damm, andere mitten im See. Drinnen ist nichts – bis auf eine Kurbel. Mit der lässt sich der Zapfen auf dem Teich-Abfluss betätigen. Der Zapfen heißt Striegel, die Abflussleitung Gerenne, Wasserkünste, Fahrkünste – das Ganze ist auch ein Museum uriger Wörter.

Manche mag Roseneck nicht so, Wasserregal etwa, den Namen fürs System haben Heimatforscher propagiert, er bezeichnet nur einen Rechtstitel, nämlich die königliche Erlaubnis, Wasserbau zu betreiben. Momentan sprechen alle vom Wasserregal, „aber“ sagt Roseneck, „das kriegen wir auch noch weg“. Er will die baulich-technischen Zusammenhänge in den Vordergrund gerückt sehen, den Sinn der Gräben und Zisternen, die im Prinzip überall gleich gebaut wurden, aber mit wechselnden Techniken und Materialien. Und steigender Größe: Auf gut 500 Kilometer Gräben und mindestens 140 Teiche war das System schließlich angewachsen, nicht chaotisch gewuchert, aber auch nicht geplant, sondern immer dem Bedarf angepasst.

Es ist ein unscheinbares Denkmal, bewundernswert wie ein komplexer Schaltkreis, aber ebenso schwer zu fassen. Wie ließe sich etwas erzählen, das keinen klaren Anfang hat? Und jetzt ist plötzlich die Neugier da, mit dem Titel. Das bringt die ins Grübeln, die’s für den Tourismus nutzbar machen müssen: „Das ist schon eine Herausforderung“, sagt Stephan Manke, Landrat vom Kreis Goslar. „Am besten erkennt man’s, wenn man drüber fliegt.“ Oder per Google Earth. Aber das erhöht die Übernachtungszahlen nicht.

Natur- contra Denkmalschutz

Am Rand der Straße heißt ein Naturparkschild willkommen. Der Harz ist in weiten Teilen als Naturpark geschützt. Aber zum Welterbe wurde er erst mit dem vor 30 Jahren gänzlich aufgegebenen, über Jahrhunderte wichtigsten Bergbau-Revier Europas. Und das ist Rosenecks Werk: Er hat den Antrag verfasst, mehr als 1.000 Seiten, meist in Nachtarbeit, fast ganz alleine. „Hier ist gar nichts Natur“, sagt er und schaut zornig aus dem Autofenster, „kein einziger Baum“. Dass die Naturparkverwaltung zum Titelgewinn gratuliert hat, erfüllt ihn dann aber doch mit stiller Genugtuung. Denn in den 90ern gab es Streit, und das hat er nicht vergessen. Da musste er ein paar seiner Teichdenkmäler bewahren – vor der Renaturierung.

Roseneck will nicht mit allen nur gut Freund sein. Und wenn ihn im Oberharz momentan alle lieben, so gilt das nicht in der Stadt Goslar. Da war er 1992 der Held gewesen: Damals bekamen Stadt und Rammelsberg das Unesco-Etikett, laufende Nummer 632. Unter der firmiert jetzt noch zusätzlich das „Upper Harz Water Management System“. Das sieht zwar Oberbürgermeister Henning Binnewies „durchweg als Chance, weil so die Komplexität des Systems besser abgebildet wird“, aber Binnewies trifft nicht immer die Gefühlslage seiner Bürger. Da gibt’s nämlich auch narzisstische Kränkungen. Dass Goslar, diese Perle, jetzt als Teil eines großen Ganzen zu sehen wäre … Das finden nicht alle gut. Ein Rentner hat beharrlich dagegen demonstriert. Immer wenn’s einen Vortrag gab über den neuen Unesco-Antrag, kam er, saß da, hintere Reihe, Schild hoch, „Wasserregal KEIN WELTERBE!!!“, an einem alten Besenstiel.

Konkurrenz von Mönchen und Bergleuten

Manche Einwürfe sind ernster zu nehmen. Rammelsberg-Museums-Chefin Angela Riedel etwa nennt den Zusammenhang zwischen Wasserwirtschaft und ihrem Revier „ein künstliches Konstrukt“. Dort, am Nordrand des Gebirges, gab es andere Erze, andere Abbaumethoden als 20 Kilometer weiter südlich – und einen anderen Landesherrn. Und dann ist da noch diese Sache mit den Walkenrieder Zisterziensermönchen. Dass denen vom Rammelsberg ein Viertel gehörte, dokumentieren die Urkundenbücher. Auch findet sich dort die älteste ausgemauerte Grube Europas, das Feuergezäher Gewölbe aus der Zeit um 1250, eine Backsteinhalle für ein riesiges Wasserrad – um Wasser aus dem Schacht zu befördern. Nicht viele konnten damals so etwas bauen. Die Zisterzienser schon. Haben sie’s? „Es gibt keine Belege“, sagt Roseneck. „Aber es spricht alles dafür.“

Riedel findet, wem welche Bedeutung zukommt, sei halt „immer eine Frage der Betrachtungsweise“. Beteiligungen habe es am Rammelsberg viele gegeben. Und schickt gallig hinterher, dass „früher auch für Herrn Roseneck die Bergleute“ die Hauptfiguren gewesen seien. „Jetzt sind es eben die Mönche.“

Früher, das soll daran erinnern, dass Roseneck, der nun das Klostermuseum Walkenried leitet, bis 2003 Chef auf dem Rammelsberg war. Man trennte sich im Streit. Konserviert hat sich der Groll. „Jetzt sind es die Mönche …“, als hätte Roseneck die erfunden, um sich an Goslar zu rächen! Aber wer den Harz kennt, weiß, dass im Muttergebürg der Romantik dunkle Theorien noch immer gut gedeihen, Legenden und Märchen. Fast trotzig setzt Rosenecks Klostermuseum unten in Walkenried dem eine spröde materialistische Erzählung entgegen. Die Entwicklung der Mönchsgemeinschaft zeigt es als Firmengeschichte eines „weißen Konzerns“, dessen spirituelle Anliegen schon bald hinter anderen Zielen zurücktraten: der rücksichtslosen Mehrung von Macht, Einfluss und Reichtum – gewonnen im Bergbau. Mit Hilfe von Wassertechnik.