Vermisst im Urwald

FLÜCHTLINGE Bis zu 40.000 ruandische Hutu-Flüchtlinge starben während des Kriegs 1996–1997 im Kongo. Das ist viel, aber weniger als damals behauptet

BERLIN taz | Wie viele ruandischen Hutu-Flüchtlinge starben wirklich in der Demokratischen Republik Kongo, als ab 1996 Ruandas Armee einmarschierte? Der UN-Bericht spricht von „wahrscheinlich zehntausenden“ getöteten Hutu, sowohl Ruandern als auch Kongolesen. Anhand der vorliegenden Zahlen ist eine genauere Antwort möglich.

Rund 2 Millionen der damals 7 Millionen Einwohner Ruandas verließen das Land, als die Tutsi-Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) im Juli 1994 die Macht übernahm und die für den vorherigen Völkermord an 800.000 Menschen, zumeist Tutsi, verantwortliche Armee und Hutu-Milizen die Flucht ergriffen. Rund 1,25 Millionen davon zogen nach Kongo, das damals noch Zaire hieß. Ende Juli 1996 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk genau 1.112.048, davon 715.991 in Nord-Kivu, den Rest in Süd-Kivu.

Ende Oktober 1996 marschierte Ruanda dort ein – offiziell zur Unterstützung der lokalen Rebellenallianz AFDL (Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung von Kongo-Zaire) unter Laurent-Désiré Kabila, tatsächlich zur Zerschlagung der ehemaligen ruandischen Armee und Hutu-Milizen in den Flüchtlingslagern. Befreit von der Geiselnahme durch ihr eigenes Militär, kehrte die Mehrheit der Flüchtlinge nach Ruanda zurück. Vom 27. Oktober bis 25. November 1996 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 656.500 Rückkehrer, bis Ende Januar 1997 waren es 725.164. Es waren also rund 385.000 übrig. Davon kannte das UNHCR den Aufenthaltsort von etwa der Hälfte. Daraus ergab sich die in den Folgemonaten häufig zitierte Zahl von 200.000 „vermissten“, mutmaßlich massakrierten ruandischen Flüchtlingen in Zaire.

Aus Nord-Kivu waren die meisten Flüchtlinge nach Ruanda zurückgekehrt, die meisten aus Süd-Kivu hingegen zogen tiefer nach Zaire hinein, bis an den Kongo-Fluss, wo es nicht mehr weiterging. Die Flüchtlingszahl im Gebiet Shabunda/Lubutu wurde vom UNHCR im Januar 1997 auf rund 330.000 geschätzt. Darunter waren viele frühere Soldaten und Milizionäre. Weitere Flüchtlingsansammlungen gab es weiter östlich.

Tod in den Lagern

In den improvisierten neuen Flüchtlingslagern in den Urwäldern am Kongo-Fluss waren die humanitären Bedingungen katastrophal und die Sterberaten dramatisch, bis zu 10 Prozent der Bevölkerung pro Woche. Ab dem 27. April 1997 gewährte die AFDL dem UNHCR eine Luftbrücke aus Kisangani nach Ruanda, um die Flüchtlinge zu repatriieren. Vorher aber waren einige der größten Lager von der AFDL sowie der ruandischen Armee gewaltsam geräumt worden. Diesen Räumungen fielen viele Menschen zum Opfer. Andere flohen weiter nach Westen. Je länger sie unterwegs waren, desto höher war der Anteil an Militärs unter ihnen.

Die Luftbrücke aus Kisangani brachte bis Ende Mai 1997 37.069 Flüchtlinge nach Ruanda zurück, sporadisch kamen danach weitere dazu, außerdem gab es permanent kleine Rückführungen aus grenznahen Gebieten Ostzaires. Am 15. Mai 1997, kurz vor dem endgültigen Sieg der AFDL unter Kabila über Zaires Mobutu-Diktatur und der Eroberung der Hauptstadt Kinshasa, meldete das UNHCR, es müsse noch 338.463 ruandische Flüchtlinge im Land geben. Aufstellungen verschiedener Hilfswerke machten es möglich, den Aufenthaltsort von 299.000 davon zu identifizieren. Im Laufe der Monate waren viele zunächst als „vermisst“ gemeldete Flüchtlingsgruppen wieder irgendwo aufgetaucht. Es fehlten demnach noch rund 40.000. Das ist also die höchstmögliche Zahl von Massakeropfern durch die AFDL sowie Ruandas Armee unter der ruandischen Hutu-Flüchtlingsbevölkerung in Zaire 1996/97.

Diese Zahl enthält auch versprengte Flüchtlinge sowie die zahlreichen Opfer der katastrophalen humanitären Bedingungen. Es fiel daher wohl nur ein Bruchteil der rund 40.000 „fehlenden“ Flüchtlinge Massakern zum Opfer. Zudem leben bis heute mehrere zehntausend Flüchtlinge aus Ruanda im Kongo. Die bewaffneten Elemente unter ihnen kämpfen bis heute in der Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas).

DOMINIC JOHNSON