Falscher Mann im Ruhestand

Was macht eigentlich Michael Bouteiller? Lübecks Ex-Bürgermeister, der öffentlich den Tod von 18 Asylbewerbern beweinte, ist wieder Rechtsanwalt. Teil 4 der Serie über PolitikerInnen nach der Politik

von ELKE SPANNER

Als Bürgermeister hatte Michael Bouteiller natürlich immer eine Chefsekretärin. Heute schreibt er seine Schriftsätze selbst. Die Rechtsanwaltskanzlei, in der er arbeitet, betreibt er ganz allein. Sie liegt in einem bewaldeten Wohngebiet, in dem man Unbekannte an der Bushaltestelle freundlich grüßt. Auch Bouteiller lebt hier. Sein Büro liegt unmittelbar neben dem Bungalow der Familie in einem kleinen Fachwerkhaus. Der Weg ins Arbeitszimmer führt durch einen Raum, der mal Hobbyraum gewesen sein könnte. Dunkelgraue Auslegeware, ein Sofa, daneben die Stereoanlage. Dort sitzt Bouteiller und hört Musik, während er den Besuch erwartet. Er hat sich ins Privatleben zurückgezogen.

Über Jahrzehnte war Bouteiller dort zu Hause, wo Entscheidungen getroffen werden – im repräsentativen Rathaus und in der Parteizentrale der örtlichen SPD. Auch heute noch findet sich seine Unterschrift unter politischen Aufrufen und Dokumenten. Für die „UN-Commission on Peace and Crisis Prevention“ etwa hat er ein Statut mitverfasst. In der Öffentlichkeit aber steht er damit nicht. „Langsam können auch mal Jüngere ran“, sagt der 63-Jährige.

Bouteiller wurde weit über die Hansestadt hinaus bekannt, als ihm am 18. Januar 1996 vor laufenden Fernsehkameras Tränen über das Gesicht liefen. In jener Nacht ging die damalige Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße in Flammen auf, zehn Menschen starben, 38 wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Brandanschlag, der niemals aufgeklärt wurde. Bouteiller war vor Ort. Er sah den Schmerz um sich herum und brach selbst in Tränen aus. Doch das Bild eines Funktionsträgers, der sich hilflos und verzweifelt zeigt, war schwer auszuhalten für eine Stadt, die sich plötzlich als rechte Hochburg angeprangert sah. Man wollte Stärke beweisen, Selbstsicherheit, und dafür war Bouteiller der falsche Mann, zumindest in diesem Moment. Er hat viel Hass geerntet dafür. „Betroffenheitskult“ ist noch eine der harmloseren Beschimpfungen, die er sich für seine Gefühle anhören musste.

Nur wenige Wochen später forderte Schleswig-Holsteins Innenminister Ekkehard Wienholtz (SPD) öffentlich den Rücktritt Bouteillers. In der Zwischenzeit hatte der zum zivilen Ungehorsam zum Schutz von Flüchtlingen aufgerufen, das Asylrecht scharf kritisiert und den Überlebenden des Brandanschlages unbürokratisch Passersatzpapiere ausgestellt, damit diese ihre getöteten Angehörigen in der Heimt beerdigen lassen konnten.

Für Bouteiller ist wesentlicher Teil der Tragik des 18. Januar 1996, „wie die Leute darauf reagiert haben“. Das Befremden darüber war sein erster Bruch mit der eigenen Partei. Bouteiller hat viel zu erzählen, wenn er über die Politik der SPD spricht. „Ja-Sagerpartei“, „kapitalhörig“, „unsozial“ – sie sind längst keine Freunde mehr. 2002, zwei Jahre nach Ablauf seiner Regierungszeit, ist Bouteiller aus der SPD ausgetreten.

Ein wenig hat er anschließend mit der WASG geliebäugelt. Er hat mehrere Kongresse der neuen Partei besucht, denn „wir brauchen ganz dringend eine Alternative in dieser Republik“. Dann hat er sich doch gegen ein aktives Mittun entschieden. Bouteiller ist müde – oder wirkt es nur so, weil er mit leiser Stimme spricht? Nach 40 Jahren Politik, sagt er, „will ich nicht mehr vorne stehen“.

Die Haare des 63-Jährigen sind nur ein wenig ergraut. Er trägt eine runde Nickelbrille und ein schwarzes Poloshirt, Wasser schenkt er aus der Plastikflasche ein. In seinem Anwaltsbüro stehen nur einzelne Ordner. Seine jetzige Tätigkeit ist eher beratend, Akten bearbeitet er kaum. Wenn er über seine Fälle spricht, beschreibt er Konflikte zwischen Menschen und keine juristischen Probleme. Mediation, Kommunikation, das sind Begriffe, die ihm wichtig sind. Nebenbei ist er freier Konfliktmoderator im Dortmunder „Institut für Kommunikation und Umwelt“. In Herdecke beispielsweise hat er zwischen den Betreibern einer Abfallrecyclinganlage und den Nachbarn das Gespräch vermittelt.

Den einstigen Kommunalpolitiker hört man bei Bouteiller nicht mehr raus. Die Frage nach seinen heutigen politischen Aktivitäten beantwortet er mit einer Abhandlung über den Völkerrechtskonflikt im früheren Jugoslawien, die verheerende Menschenrechtssituation im Kongo und das Selbstverständnis der USA, Friedensbote in der Welt zu sein. Bouteiller erzählt in unzähligen Details. Er wirft mit Namen um sich, springt gedanklich von einem Katastrophengebiet ins nächste und verzettelt sich manchmal in Einzelheiten, als würde er in seiner Erzählgeschwindigkeit noch von den Gedanken überholt. Es ist nicht immer leicht, ihm zu folgen. Zwölf Jahre war er Bürgermeister, da spricht man auch ungefragt. Doch seine Sätze offenbaren nicht die Gewöhnung an Macht, sondern den Wunsch, andere an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen.

Der Bungalow, in dem Bouteiller lebt, ist von außen schlicht. Die Einrichtung aber ist modern und geschmackvoll. Hinter der Wohnzimmertür hängt ein Bild, das er selbst gemalt hat. Zu sehen ist das Lübecker Holstentor, auf das eine schwere Pistole gerichtet ist. Davor kauert eine Taube, die zu diesem Zeitpunkt noch lebt. Sie steht für einen Mann, der mit Nachnamen Schöntaube hieß, in Lübeck auf der Straße lebte und eines Tages von einem Ordnungsfanatiker erschossen wurde.

Bouteiller kannte diesen Mann gut. Er hatte Schöntaube zufällig beim Bummel an der Trave kennengelernt, als er mitten im Bewerbungsverfahren um den Posten des Bürgermeisters war. Im Laufe ihrer Plauderei hatte Bouteiller das erzählt. Und Schöntaube hatte erwidert: „Wenn du Bürgermeister wirst, dann werde ich Kaiser von China.“ Daraufhin gab Bouteiller ein Versprechen ab: Sollte er den Regierungsjob bekommen, würde er Schöntaube am ersten Arbeitstag zum Mittagessen einladen.

Das Versprechen hat er eingelöst – und sich gleich die erste Kritik eingehandelt. „PR-Gag“, höhnte die örtliche Presse zur Begrüßung des neuen Amtsinhabers. Wenige Monate später war Schöntaube tot. „Dieses Erlebnis“, sagt Bouteiller, „hat mich in meiner Amtszeit am meisten berührt.“