Zum Schlachtfeld berufen

Einst war der Libanon ein Hafen der Seligen in einer brutalen Region – mit schönen Frauen, reich gefüllten Geldbörsen und parlamentarischer Demokratie. Doch der Schein trog. Das Land ist ein Ort für Kriege, die größer sind als es selbst

Der jüngste Schlag der Hisbollah folgt keiner internen libanesischen Logik

VON SELIM NASSIB

Bis Ende der 60er-Jahre ist es im Libanon fast schon auf skandalöse Art angenehm. Alle Unglücke der arabischen Welt, die Kriege gegen Israel sowie die Krisen und Staatsstreiche verwandeln sich ständig in Kapital, das in die unzähligen Taschen Beiruts fließt. Eingeklemmt zwischen Syrien und Israel, mit einem ausgeglichenen Klima gesegnet, rühmt sich das kleine Land über viele Jahre hinweg seiner parlamentarischen Demokratie, der Pressefreiheit, seines Bankgeheimnisses, der Schönheit seiner Frauen, seiner Wasserskiplätze und seiner Wintersportanlagen. Der Libanon ist ein Stück Europas, das das Privileg eines besonderen Staatsgebietes genießt, eine Schweiz im Nahen Osten, ein friedlicher Hafen in einer brutalen Region, frankophon, anglophon, tolerant und selig.

Der Sechstagekrieg im Jahre 1967 beendet diese Illusion. Was noch vom historischen Palästina übrig geblieben ist, erobert Israel (Westjordanland, Gaza, Ostjerusalem), aber auch den ägyptischen Sinai und die syrischen Golanhöhen. Dieses Mal ist die arabische Niederlage dergestalt, dass niemand den Schlägen entkommt. Als Antwort auf die allgemeinen Wirren tritt der „Palästinensische Widerstand“ öffentlich in Erscheinung, greift zu den Waffen und schwört, die verlorene Ehre zu retten. In den nächsten zwei Jahren fasst die Organisation in Jordanien Fuß, organisiert Flugzeugentführungen, um auf sich aufmerksam zu machen, und fordert die Rückgabe eines Landes, ihres Landes – Palästinas. König Hussein von Jordanien ist außer sich und geht mit äußerster Härte gegen die Gruppierung vor, was 1970 zu ihrer Vertreibung aus dem Königreich und zu ihrem Rückzug in den Libanon führt.

Dort hat die instabile Zentralmacht ein Jahr zuvor die schlechte Idee gehabt, mit den „Verträgen von Kairo“ ein Dokument zu unterzeichnen, das es der Palästinensischen Befreiungsorganisation erlaubt, sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern einzunisten, die Kontrolle über große Teile im Süden des Libanon zu übernehmen und diese zu benutzen, um Israel anzugreifen. Das Ergebnis ist vorhersehbar: Die Grenze fängt Feuer, und dabei offenbart sich die extreme Fragilität des libanesischen Gebäudes, einer nur scheinbaren Demokratie, eines in Wahrheit äußerst instabilen Mosaiks verschiedener konfessioneller Gruppen.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Schwäche des libanesischen Staates als eine Tugend angesehen worden, die es erlaubt, den regionalen Kriegen zu entgehen. Mit dem Ausbruch der Krise kehrt sich diese Regel um. Es bilden sich bewaffnete Milizen – „christliche“ auf der einen, „linke und muslimische“ auf der anderen Seite, die um die Machtverteilung zwischen den religiösen Gruppen sowie um die Frage der militärischen Präsenz der Palästinenser im Libanon kämpfen.

Plötzlich findet sich der Libanon in der Position wieder, die Schwachstelle in der Region zu sein, der Ersatzort, wo alle Konflikte im Kleinen ausgetragen werden, anstatt sich zu ihrer wahren Größe auszuwachsen. Die paradiesische Situation, die das Land gekannt hat, wendet sich gegen es: Der Libanon wird zu einer Hölle des Krieges der anderen wie auch seines eigenen. 1975 bricht der Bürgerkrieg aus – großzügig befördert von libanesischen Milizen, verschiedenen palästinensischen Gruppen, Syrien, Israel und fast der ganzen Welt. Der Krieg dauert fünfzehn lange Jahre, fordert 150.000 Tote und richtet zahllose Zerstörungen an.

Mit Anbeginn des Konfliktes wechselt die syrische Armee ihre Verbündeten und kommt den christlichen Milizen zu Hilfe, deren militärische Niederlage sie ausnutzt. Das ermöglicht es ihr, den Norden und Osten des Landes zu besetzen. 1978 marschiert die israelische Armee ein. Ihr Ziel ist es, eine Pufferzone zu schaffen, die sie einer libanesischen Miliz überantwortet.

Der wichtigste Wendepunkt findet 1982 statt, als der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon seine Truppen bis vor die Tore der libanesischen Hauptstadt schickt, um der Militärpräsenz der Palästinenser ein für alle Mal ein Ende zu machen. Nach drei Monaten Belagerung und Bombardements scheint das Ziel erreicht: 14.000 palästinensische Kämpfer sind gezwungen, Beirut zu verlassen, und zerstreuen sich in der arabischen Welt. Jassir Arafat und sein Generalstab gehen ins Exil nach Tunis. Es gibt keine palästinensischen Waffen mehr an Israels Grenzen.

Doch der Schein trügt, Sieg und Niederlage liegen wie so oft dicht beieinander. Wenige Tage, bevor er Präsident der libanesischen Republik wird, wird der Hauptverbündete Israels, Bachir Gemayel, getötet. Die israelische Armee reagiert. Sie schließt Beirut ein und lässt zu, dass christliche Milizen in die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila eindringen, wo sie ein Blutbad mit mindestens 1.000 Toten anrichten. Eine israelische Untersuchungskommission wird später eine indirekte Verantwortung von Armee und von deren Chef Ariel Scharon feststellen.

So endet die Invasion des Libanon unehrenhaft. In den folgenden Monaten bemüht sich Israel um die Unterzeichnung eines separaten Friedensvertrages mit dem Libanon – vergeblich. Israel ist gezwungen, sich in den Süden des Landes zurückzuziehen. Langsam gewinnt Syrien wieder die Oberhand. Doch die Probleme des Libanon hören damit nicht auf. Wie um jene zu widerlegen, die meinen, die Palästinenser seien die Quelle aller Probleme, brechen Kriege aus: zwischen Drusen und christlichen Milizen, zwischen schiitischen Milizen und palästinensischen Flüchtlingen sowie zwischen unterschiedlichen palästinensischen Gruppen im Norden und Osten des Landes.

Die syrische Armee, die ihre klassische Rolle als zündelnder Feuerwehrmann spielt, kehrt 1987 nach Beirut zurück. Das provoziert zwei Jahre später einen christlichen Militäraufstand des Generals Michel Aoun. Dieser Aufstand führt zu Zusammenstößen zwischen rivalisierenden christlichen Gruppen. Die Berufung des Libanon, ein Schlachtfeld zu sein, überlebt alle Zufälligkeiten.

Das wichtigste Ereignis, das dem israelischen Einmarsch von 1982 folgt, ist die Gründung der Hisbollah durch direkt aus Teheran über Syrien geschickte Revolutionswächter. Dabei handelt es sich nicht um eine zusätzliche Partei in der libanesischen Szene, sondern um die Etablierung einer neuen Geisteshaltung, einer neuen Logik. Denn trotz allem hat sich die Mehrzahl der militanten Organisationen bis zu diesem Zeitpunkt mit einem mehr oder weniger laizistischen arabischen Nationalismus identifiziert. Das Ziel bleibt die „Befreiung des Bodens“ (das heißt die Befreiung der besetzten palästinensischen Gebiete) und der Anschluss der arabischen Welt an Moderne und „Fortschritt“ (takaddom), der mehr oder weniger dem westlichen Modell folgt.

Der Hisbollah jedoch geht es nicht mehr darum, zum Westen aufzuschließen, sondern darum, ihm möglichst harte Schläge zuzufügen, um zu zeigen, dass der Kampf, den „Gott ist der Größte“ unterstützt, wirksamer ist als alles andere. Das Attentat auf amerikanische und französische GIs der multinationalen Truppe in Beirut mit insgesamt 299 Toten und die Entführungen von Ausländern im Libanon eröffnen diese neue islamistische Ära. Stück für Stück schließt sich die schiitische Gemeinschaft, die den Großteil der Truppen der libanesischen Linken stellt, der Hisbollah oder deren schiitischem Rivalen, der Amal-Bewegung, an.

Ende 1989 lädt Saudi-Arabien alle libanesischen Parteien in die Stadt Taef ein, um zu versuchen, den Krieg zu beenden. Die Konferenz endet mit einer Reihe von Resolutionen. Diese tarieren die Machtverteilung zwischen den Gemeinschaften zugunsten der Muslime neu aus, anerkennen die Rolle Syriens als eines Paten in der libanesischen Szene und verfügen die Entwaffnung aller Milizen, mit Ausnahme der Hisbollah. Warum? Weil die Hisbollah keine Miliz ist, sondern „eine Organisation legitimen Widerstandes“, die für die Befreiung des Südens kämpft. Damit ist die Bombe gezündet, die heute explodiert.

Mit der Gründung der Hisbollah etabliert sich die islamistische Geisteshaltung

In der Zwischenzeit weigern sich die Libanesen zurückzublicken und freuen sich an dem wiedergekehrten Frieden. Sie knien sich in den Wiederaufbau ihres Landes unter der Führung von Rafik Hariri, einem sunnitischen Geschäftsmann, der Milliardär geworden ist. Die Jahre vergehen, der Krieg ebbt ab, obwohl er im Süden weitergeht. 2000 zieht sich die israelische Armee unter dem militärischen Druck der Hisbollah einseitig hinter die Grenze zurück und überlässt es der schiitischen Organisation, „Sieg“ zu rufen und den Süden militärisch zu kontrollieren. Das Land gratuliert der Hisbollah zu diesem unerwarteten Ergebnis und fordert die Gruppe auf, die Waffen abzugeben, um sich wieder dem zivilen, normalen Leben aller Libanesen anzuschließen.

Doch die Partei Gottes ist auf diesem Ohr taub, genauso wie Syrien und der Iran. In Wahrheit haben die Armee und die syrischen Brutstätten im ganzen Libanon erheblich an Gewicht gewonnen. Im Laufe der Jahre hat sich zwischen den politischen Kräften und den libanesischen Glaubensgemeinschaften ein Konsens herausgebildet, um den Abzug zu fordern. Die Syrer antworten, indem sie – erfolgreich – eine verfassungswidrige Verlängerung der Amtszeit des libanesischen Präsidenten fordern. Sie ermorden Rafik Hariri, der versucht hat, sich dieser Verlängerung zu wiedersetzen.

Das Kalkül erweist sich als extrem gefährlich. Plötzlich überwindet der Libanon seine Angst und erhebt sich gegen die syrische Besatzung. Eine ganze junge Generation, die den Bürgerkrieg nicht gekannt hat, geht auf die Straße und verleiht ihrem Wunsch nach Demokratie, Unabhängigkeit und Souveränität Ausdruck. Die Welt, allen voran Frankreich und die USA, unterstützen die Bewegung. Das führt zu einer Resolution des Sicherheitsrates, die ein Ende der syrischen Besatzung und die Entwaffnung der Hisbollah fordert. In der Defensive und gezwungen, den Abzug der Truppen aus dem Libanon anzuordnen, antwortet Syrien auf die Kühnheit der Libanesen mit einer Serie von Morden. Langsam jedoch, unterstützt von Iran, das durch die festgefahrene Lage der USA im Irak arrogant geworden ist, bekommt das syrische Regime wieder Oberwasser.

In diesem Kontext entspricht der Schlag der Hisbollah, der zu der gegenwärtigen Krise geführt hat, keinerlei innerer libanesischer Logik. Vielmehr fügt er sich ein in die Strategien des Iran, einen militärischen Konflikt mit Israel zu beginnen, und in die Strategien Syriens, seinen verlorenen Einfluss zurückzugewinnen. Voller Hoffnungslosigkeit entdeckt der Libanon, dass er, 15 Jahre nach dem Friedensschluss, nicht aufgehört hat, ein Schlachtfeld von Kriegen zu sein, die größer sind als er.

Aus dem Französischen von Barbara Oertel

Der libanesische Schriftsteller und Journalist Selim Nassib ist 1946 in Beirut geboren und lebt seit 1969 in Paris. Zuletzt erschien sein Roman über die ägyptische Sängerin Umm Kalsum: „Stern des Orients“, Zürich (Unionsverlag), 1999. Sein Text „Albtraum von oben“ erschien in der taz vom 27. Juli