„Menschen werden ins Heim gedrängt“

ALTER Bei Sozialhilfeempfängern wird die Forderung „ambulant vor stationär“ zur Floskel, sagt Pflegeexperte Werner Hesse

■ 57, ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Berlin. Der Jurist war 2013 Mitglied des Pflegebeirats der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung.

taz: Herr Hesse, der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung hat versprochen, den Wunsch von zwei Dritteln der Bevölkerung ernst zu nehmen, zu Hause alt werden zu dürfen. Welche Taten müssen folgen?

Werner Hesse: Es ist leider so: In Deutschland steigt der Anteil der Menschen, die Hilfe zur Pflege vom Sozialamt benötigen, um ihre Pflege trotz Versicherung überhaupt noch bezahlen können. Derzeit betrifft dies 439.000 Menschen. Diese Menschen werden, obwohl viele von ihnen zu Hause gepflegt werden möchten, von den Kommunen zur kostengünstigsten Lösung gedrängt: Das ist bei intensiver Pflege meistens das Heim. Um den Vorrang ambulant vor stationär durchzusetzen, muss dieser Kostenvergleich abgeschafft werden.

Aus Sicht der Kommunen ist es doch aber legitim, dass sie darauf achten, die Kosten im Rahmen zu halten?

Die Haltung des einzelnen Sozialamts ist durchaus nachvollziehbar. Deshalb müssen die Leistungen der Pflegeversicherung so verbessert werden, dass das Sozialamt gar nicht mehr einspringen muss.

Aber wie soll das finanziert werden, wenn ein Dementer rund um die Uhr von ambulanten Pflegern betreut werden muss, auch zu seinem eigenen Schutz?

Nicht die gesamte Betreuung muss durch teure Fachkräfte erfolgen. Am Ende bleibt es aber dabei, dass Zeit Geld kostet und die Gesellschaft sich bekennen muss, was ihr ein menschenwürdiges Leben im Alter Wert ist.

Wie könnten die Kommunen entlastet werden?

Eine Entlastung der Kommunen erfordert bessere Leistungen der Pflegeversicherung. Auch die Länder müssen sich an der Finanzierung von Tagespflege und Betreuung beteiligen. Sie haben sich seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 fast völlig ihrer Mitverantwortung entzogen.

Die Pflegeversicherung war immer nur eine Teilkaskoversicherung. Ist es Zeit, sie angesichts der demografischen Verhältnisse in eine Vollkaskoversicherung umzuwandeln?

Die Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Teilleistungssystem wäre akzeptabel, wenn eine durchschnittliche Rente reichen würde, die Restkosten zu finanzieren. Die Zahl von 439.000 Menschen, die wegen Pflege auf Sozialhilfe angewiesen sind, belegt, dass die Leistungen der Pflegeversicherung und damit auch der Versicherungsbeitrag deutlich angehoben werden müssen. Eine Versicherung, die den eigenen Anspruch – Sozialhilfebedürftigkeit zu vermeiden – nicht einlösen kann, ist gescheitert.

INTERVIEW: HEIKE HAARHOFF