Ein Mutiger

Als am 5. Februar 2014 Gerlef Gleiss verstarb, verlor die deutsche Behindertenbewegung und die deutsche Linke einen der wichtigsten Querdenker der Behindertenpolitik und einen wunderbar warmherzigen, aufrichtigen und humorvollen Genossen. Gerlef war seit über 30 Jahren Mitstreiter der radikalen Behindertenbewegung, als überzeugter Trotzkist Mitglied der 4. Internationalen und zuletzt Mitglied der Linken. Aus seiner politischen Auffassung hat er so wenig Hehl gemacht wie aus seiner körperlichen Beeinträchtigung. „Das wäre auch schlecht möglich gewesen“, höre ich ihn schon aus dem Off rufen, „denn mein Rollstuhl war ja unübersehbar.“

In der Tat, Gerlef war ein baumlanger Kerl und sein Elektrorolli war ein Schiff. Aber so wie er für seine politischen Ansichten gestritten hat, so hat er für ein selbstbestimmtes Leben als Mensch mit Assistenzbedarf gekämpft. Er fiel als scharfzüngiger Mitstreiter auf, der nicht davor zurückscheute, sich mit den eigenen Reihen anzulegen.

Gerlef fand den Ausschluss von Nichtbehinderten aus Krüppelgruppen falsch, da er in den 1980er Jahren nur zwei Hauptwidersprüche, Kapitalismus und Patriachat sah. Ob Esoterik und Naturschutzideologie gefährlich sind, bejahte er mit dem bekannten Marx-Zitat Religion sei „Opium für das Volk“. Aber Gerlef wusste auch wie das Zitat weiterging, nämlich dass die Religion der „Stoßseufzer der bedrängten Kreatur“ ist. Und diese Stoßseufzer seien ernst zu nehmen.

Ob die „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung Geld von der verhassten Aktion Sorgenkind nehmen dürfe, beantwortete Gerlef kategorisch mit Nein, weil an deren Geld der Stachel des Mitleids klebe. Er hat sich selbstkritisch mit der Linken auseinandergesetzt und festgestellt, dass selbst der verehrte Trotzki nicht weit von den eugenischen Utopien moderner Bioethiker entfernt war. In seinen Publikationen brillierte Gerlef mit klaren Analysen, humorvollem Stil und zumeist sachgerechter Auseinandersetzung. Seine scharfen Anklagen waren gefürchtet. Aber er hatte auch ein großes Herz und war tolerant, wenn FreundInnen andere Wege gingen.

Wenn Gerlef gelitten hat, dann an der „Kopfstreichelmentalität“, die er in vielen seiner Aufsätze thematisiert. Aber Gerlef hat nicht nur gemeckert. Er hat auch aufgebaut. Unter anderem das Autonom Leben e. V. Hamburg, eine Beratungsstelle für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen und die Hamburger Assistenzgenossenschaft. Er hat für sich und viele andere behinderte Menschen ein selbstbestimmtes Leben in Würde außerhalb von Anstalten und anderen Sondereinrichtungen erkämpft.

Er hat auch für die gerechte Entlohnung und Absicherung der AssistentInnen gestritten, das gehörte für ihn als überzeugter Marxisten einfach dazu. Dass Assistenznehmer als Arbeitgeber und Assistenzgeber als Arbeitnehmer in einem unausweichlichen Interessenkonflikt stehen, konnte kaum einer so gut formulieren wie er. In einer seiner letzten großen Reden im Zentrum für Disability Studies (Zedis) an der Universität Hamburg im April 2010 sagte er: „Selbstbestimmt leben! Es war und bleibt die Aufforderung, über die Beeinträchtigung zu trauern, über die Behinderung zu fluchen und zu schimpfen, wenn sie einem im Wege steht, aber niemals zu versuchen, diese zu verstecken, nur um sich dadurch soziale Anerkennung und Teilhabe zu erkaufen in der trügerischen Hoffnung, die Normen der Nichtbehinderten zu erfüllen. Es war und bleibt die Aufforderung, dem ständigen Blick der nichtbehinderten Mitmenschen auf unser vermeintliches Defizit unsere Würde als ganzer Mensch entgegenzuhalten.“

Gerlef hat die letzten elf Monate seines Lebens leider in verschiedenen Krankenhäusern verbringen müssen. Er hat all das mit Optimismus und Kampfgeist ertragen und sich jeden Tag seine Selbstbestimmung wieder erkämpft. Er hat glücklicherweise zum Schluss auch Bedingungen vorgefunden, die ihm ein selbstbestimmtes Sterben ermöglichten. Das hat er, der große Gegner jeder aktiven Sterbehilfe, dann auch getan. Seine Blogseite trägt das Motto „Wie mutig man ist, weiß man immer erst hinterher“. Gerlef Gleiss war mutig, jeden Tag seines 59-jährigen Lebens!  THERESIA DEGENER