Zu Hause ist Krieg

In Israel und im Libanon fallen Raketen und Bomben. Die Menschen leben in Angst – auf beiden Seiten der Grenze. Doch auch für ihre Angehörigen in Deutschland ist es eine belastende Situation. Wie für Ruth und Adonis. Sie fühlen sich und die Heimat bedroht

von SANDRA SCHMID

Ihr Flugzeug aus Griechenland war kaum in Berlin gelandet, als es passierte: Gerade noch hatte Ruth mit anderen Künstlern und Kulturschaffenden über ihre neue Idee für eine Ausstellung gesprochen, die Bewegung in die verhärteten Fronten zwischen Israelis und Palästinensern bringen soll, da fielen die ersten Bomben.

Der Nahostkonflikt eskalierte. Wieder. Diesmal an der Grenze zum Libanon, dort, wo die 35-jährige Israelin aufgewachsen ist. Für Ruth, die seit 15 Jahren als Fotografin in Berlin lebt, ein harter Schlag: Hisbollah-Milizen hatten nur wenige Kilometer von ihrer Heimatstadt Haifa entfernt Katjuscha-Raketen abgefeuert, mehrere Soldaten getötet und zwei Gefangene genommen.

Israels Antwort waren Bombenangriffe. Seitdem hat Ruths Familie schon mehrmals die Nacht im Bunker verbracht – wie so viele der etwa 270.000 Einwohner von Haifa.

Das Heimatdorf ist leer

Eigentlich sollte auch Adonis in drei Tagen in einem Flugzeug sitzen. Nach Beirut wollte er: Ferien machen, seinen Vater besuchen, endlich die Freunde zu Hause wiedersehen. Doch zu Hause ist Krieg, und Flugzeuge fliegen längst nicht mehr nach Beirut.

Der Flughafen ist zerstört. Adonis’ Flug wurde storniert, und der 25-jährige Medizinstudent blieb, wo er war: in Berlin, wo er seit sieben Jahren bei seiner deutschen Mutter wohnt. Doch dort, wo er aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, im Süden des Libanons, haben Bomben viele Ortschaften unweit der israelisch-libanesischen Grenze zerstört.

Menschen wurden verletzt oder sind unter den Trümmern ihrer eingestürzten Häuser gestorben. Adonis’ Heimatdorf Srifa, etwa neun Kilometer von der Grenze entfernt, ist mittlerweile fast menschenleer: Von 5.000 Einwohnern sind nur etwa 100 geblieben. Die anderen sind auf der Flucht. Auch sein Vater, die Stiefmutter und die jüngeren Geschwister haben längst ihre Koffer gepackt und das Dorf in Richtung Norden verlassen. Ob ihr Haus noch steht, wenn sie zurückkehren, wissen sie nicht.

Ohnmächtige Zuschauer

All dem, was in seiner Heimat geschieht, kann Adonis in Berlin nur ohnmächtig zusehen. Vor dem Fernseher. Im Internet. „Das Erste, was ich morgens mache, ist den Computer einzuschalten und zu sehen, was wieder passiert ist“, sagt er mit einem ernsten Blick durch seine schmale, graue Brille. Seit drei Wochen ist das Lesen von Meldungen die erste Handlung des Tages – und die letzte, bevor er schlafen geht. Wenn er schon nicht viel tun kann, dann will er wenigstens so viel wie möglich erfahren. Die Nachrichten zu verfolgen, hilft gegen die quälende Ungewissheit, vor allem dann, wenn er keinen Handykontakt mit seinem Vater halten kann. Mindestens einmal täglich telefonieren sie. Doch zu Beginn der Unruhen riss der Kontakt plötzlich ab. Das Funknetz im Südlibanon war zusammengebrochen. „Israel hat die Funkmasten bombardiert“, da ist sich Adonis sicher. Fünf Tage lang gab es kein Lebenszeichen. Adonis machte sich große Sorgen. Über den arabischen Fernsehsender al-Dschasira erfuhr er schließlich, dass dort, wo seine Familie sich zuletzt aufgehalten hatte, gerade keine Bomben niedergingen. Adonis atmete auf. Inzwischen ist seine Familie über Tyrus, Saida und Beirut in Tripoli, im Norden des Libanons, angekommen. Freunde hatten ihnen dort eine leer stehende Wohnung vermittelt. Ein Glück, denn die meisten Flüchtlinge müssen in Schulen oder anderen öffentlichen Gebäuden übernachten.

Wie für Adonis waren auch für Ruth die vergangenen drei Wochen ein Ausnahmezustand: Noch immer telefoniert sie mehrmals täglich nach Israel, will sich vergewissern, dass es Familie und Freunden dort gut geht. Denn zu Hause in Haifa steht das Leben still: Die Straßen sind leer, der Busverkehr ist eingeschränkt, viele Läden öffnen nur sporadisch. Die meisten Bewohner haben die Hafenstadt verlassen, so wie Ruths jüngerer Bruder und seine Frau. Vor wenigen Tagen haben sie Zuflucht bei Freunden in Beer Schewa, im Süden Israels, gefunden. Raketenbeschuss, Sirenengeheul und die Nächte im stickigen Bunker – für die Eltern von zwei Kleinkindern war das nicht länger zu ertragen. Doch viele Menschen sind trotzdem in Haifa geblieben, so wie Ruths Eltern. Sie überlebten als Kinder den Holocaust, bauten das Land auf, verteidigten es in allen folgenden Kriegen. Heute sind sie weit über siebzig und wollen nicht mehr fliehen. „Dabei hat meine Mutter große Angst“, sagt Ruth.

Und sie ist nicht die Einzige. Ruth erzählt von einer Freundin, deren Mann als Pilot Angriffe über dem Libanon fliegt. Beide könnten kaum noch schlafen, sie aus Angst um ihn, er vor Sorge, mit den Bomben wieder Zivilisten zu treffen.

Doch selbst im „sicheren Deutschland“ ist die Situation für Ruth belastend: Immer wieder hat sie mit anderen über den Konflikt diskutiert, hat mit sich gerungen: Darf so ein Krieg sein? Gibt es eine Alternative? Doch wenn Israels Existenz auf dem Spiel steht, dann sieht sie keine. Und dass sie auf dem Spiel steht, da ist sie sich sicher angesichts der Drohungen aus Iran. Sie macht es sich nicht leicht, über den Krieg zu urteilen. Umso mehr ärgert es sie, wenn andere es tun: Erst vor ein paar Tagen geriet sie in eine Diskussion mit einem Taxifahrer: „Auf Israel bin ich schlecht zu sprechen“, ließ er sie auf der Fahrt prompt wissen. „Israel hat Kinder im Libanon umgebracht.“ Ruth versuchte ruhig zu bleiben und zu erklären, dass das furchtbar sei, aber eben nur die eine Seite der Medaille. Sie ist noch immer aufgebracht: „Der sitzt in seinem vollklimatisierten Auto im sicheren Deutschland und glaubt genau zu wissen, was richtig und was falsch ist – aber was weiß er schon davon, wie es ist, in Israel zu leben?“ Ruth ist mit dem allgegenwärtigen Gefühl der Bedrohung aufgewachsen: Krieg, Bombenattentate, Sirenengeheul, Gasmasken, Nächte im Bunker – sie kennt das alles. Sie hat wie jeder Jugendliche in Israel ihren zweijährigen Militärdienst abgeleistet, ist gewöhnt an Soldaten auf den Straßen, Sicherheitskontrollen vor jedem Kaufhaus, jedem Restaurant. Auch wenn sie kein ängstlicher Mensch ist, hat sie gelernt, vorsichtig zu sein. Selbst hier in Deutschland. „Die Hisbollah hat angekündigt, Israelis im Ausland zu entführen“, erklärt Ruth. Ihren vollen Namen möchte sie deshalb nicht in der Zeitung lesen, auch über ein Foto musste sie gründlich nachdenken, bevor sie zustimmte.

Je mehr der Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah eskaliert, desto weniger will Adonis in Berlin untätig sein. So ruhig und überlegt er auch wirken mag, jeder neue Bombenangriff und jede neue Nachricht aus seinem zerstörten Heimatland machen ihn wütend und traurig. Adonis engagiert sich nun zusammen mit anderen Studenten in der deutsch-libanesischen Gemeinde. Ein Komitee haben sie gegründet, damit Medikamente verschickt, Geld transferiert und vor allem auch Demonstrationen organisiert werden können. „Da unten geschieht Unrecht“, sagt Adonis mit nicht zu überhörender Bitterkeit in der Stimme, „es ist ein Kriegsverbrechen, die Infrastruktur eines Landes zu zerstören und Zivilisten zu beschießen, das wollen wir der deutschen Öffentlichkeit vor Augen halten“. Deshalb geht er nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche auf die Straße.

Ruth möchte auch etwas bewegen, auf lange Sicht: Vor drei Jahren startete sie in Ramle, zwischen Jaffa und Jerusalem gelegen, ein Fotoprojekt mit arabischen und israelischen Kindern. Sie leben dort in nächster Nähe – jedoch ohne wirklichen Kontakt miteinander zu haben. „Viele israelische Kinder würden nie in Straßen gehen, in denen die arabischen Kinder wohnen, und umgekehrt“, erzählt Ruth, während sie in ihrer Küche den Tisch für das Abendessen deckt. „In dem Projekt sollten sie aber für die anderen ihre Straßen und Wohnungen fotografieren – und siehe da, plötzlich merkten sie, dass da Menschen wie sie wohnten“. Ruth lächelt, streicht ihre widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Manchmal sind wir uns doch gar nicht so unähnlich: Israelis und Araber sind laut, temperamentvoll, sie hängen ihre Wäsche zum Trocknen auf die Straße und sie lieben dasselbe Essen!“ Und tatsächlich, der Salat aus Petersilie, Gurken und Tomaten, den sie selbst gern zubereitet, wird in Israel nur „Arabischer Salat“ genannt. Er gehört zu den beliebtesten Gerichten im Land.

Es gibt kein Vertrauen

Warum Israelis und Palästinenser es dennoch nicht schafften, in Frieden zusammenzuleben, das wird Ruth oft gefragt. Auch sie hat darüber nachgedacht und stellt nun eine Gegenfrage: „Was würden Deutsche sagen, wenn die Niederlande plötzlich Hamburg beschießen würden und dann argumentierten, Friede könne erst herrschen, wenn Deutschland von der Landkarte getilgt sei?“ Israel fehle ein verlässlicher Gesprächspartner für Friedensgespräche, meint sie. Das Land sei umgeben von Ländern mit anderer Kultur und Mentalität. „Deshalb tun sich Israel und seine arabischen Nachbarn so schwer, vertrauensvoll miteinander zu sprechen.“ Umso dringlicher sei es, Verständigungsarbeit zu leisten. Ruth möchte mithelfen.

Das nächste Projekt ist schon in Planung: Auf die Mauer, die in Jerusalem palästinensisches und israelisches Gebiet trennt, möchte sie Fotos projektieren: Fotos von Israelis auf die palästinensische Seite, Bilder palästinensischen Lebens auf die israelische. Sie will Geschichten aus dem jeweils unbekannten Teil des Landes erzählen. So hofft Ruth, vorgefestigte Vorurteile auf beiden Seiten aufzuweichen.

Verständnis für die Wut

Vor dem Roten Rathaus werden libanesische und palästinensische Fahnen geschwungen, arabische Musik schallt herüber, Plakate werden in die Höhe gehalten. Die Demonstration formiert sich. Auch Adonis ist gekommen, aber eine Fahne hat er nicht mitgebracht, das ist nicht seine Sache. Auch in die vereinzelten Sprechchöre, die die Regierenden in Israel und in den USA als „Mörder“ beschimpfen und sogar „Tod Israel“ fordern, stimmt er nicht mit ein. Doch er hat Verständnis für die Wut seiner Landleute. Auch dafür, dass die Hisbollah bei vielen Libanesen wieder so hoch im Kurs steht. „Wer soll uns sonst verteidigen, wo doch das libanesische Militär und die UN-Truppen so schwach sind?“ Es klingt wie eine Rechtfertigung. „Die Welt muss einfach sehen, dass Israel uns nicht in Ruhe lässt“, sagt er, während der Menschenzug in die Friedrichstraße abbiegt. „Ich plädiere nicht für Krieg, überhaupt nicht“, beteuert er weiter, „aber wir sind ein kleines Land und Israel ist mächtig mit seinen vielen Waffen. Wir fühlen uns einfach bedroht.“