Hausbuch der Gespenster

VERLUSTE Die Angst, dass einem alles entgleitet: sie verbindet in Ricarda Junges Roman „Die komische Frau“ Vergangenheit und Gegenwart in der Berliner Karl-Marx-Allee

Die Vergangenheit rüttelt an den Fenstern, ist längst eingedrungen und unter das PVC gekrochen

VON DANIELA ZINSER

Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt, ein unbemerktes Überqueren der Linie, und sacht kippelt man aus dem Leben, gerät neben die Spur, Dinge entgleiten, und man sieht Gespenster – oder wird vielleicht selbst zu einem.

Eigentlich hatte Lena, die Ich-Erzählerin in Ricarda Junges drittem Roman, „Die komische Frau“, alles ganz gut im Griff. Ja, die Beziehung zu Leander, ihrem Freund und Vater des kleinen Adrian, ging gerade in die Brüche, jetzt sitzt Lena allein mit ihrem Sohn in der neuen Wohnung, die Aufträge für die freie Journalistin kommen spärlich, die Kontoauszüge ignoriert sie. Aber eigentlich kriegt sie das alles doch hin.

Bis eines Tages die Zeitung aufgeschlagen daliegt – aber Lena hatte gar nicht darin gelesen. Ein anderes Mal ist die Heizung voll aufgedreht, im Sommer. Eine brennende Kerze, ein offenes Fenster, das plötzlich eingeschaltete Radio – die Seltsamkeiten häufen sich, und Adrian, der noch kaum sprechen kann, sieht wieder und wieder „die komische Frau“. Die Zukunft ist eingefroren in dieser Wohnung, und Lena ist in ihr eingeschlossen. Die Vergangenheit rüttelt an den Fenstern, ist längst eingedrungen, unter das PVC gekrochen, mit dem die alten Holzdielen beklebt sind.

Der alte und der neue Osten

Gerade erst war Lena mit Leander und Adrian aus Hamburg nach Berlin gezogen, in die Zuckerbäcker-Stalinbauten der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain, wo damals die vom DDR-System Überzeugten wohnten, viele von ihnen sind heute noch da. Nebenan leben nun die Kreativhipster aus dem Westen, der alte und der neue Osten in einem Haus.

Lena und Leander, die quasi frei schreibend in der Luft hängen, sich von der vermeintlichen Freiheit ernähren und ihre linken Jugendideen längst an die Realität verloren haben, und daneben ihre Nachbarn, die Systemtreuen, die hilflos weiterleben wie damals, auch wenn es ihr Land nicht mehr gibt: diese beiden Ebenen verwebt Ricarda Junge in ihrem Buch kunstvoll. Verunsicherung, Verlorensein, dieses Sich-auf-nichts-mehr-verlassen-Können, teilen die beiden Milieus, so unterschiedlich ihre Lebenserfahrung sonst auch ist. Ebenso wie das Spionieren.

Beide sehen genau hin: die ehemaligen Stasi-Spitzel, die alles überwachen, und die neuen Bewohner, die sich ständig selbst beobachten und wie aus der Ferne erforschen. „Das Plättchen über dem Spion an der Wohnungstür war vom vielen Anfassen grau geworden. Auf dem makellos weißen Lack wirkte es wie ein Schmutzfleck“, schreibt Ricarda Junge, Jahrgang 1979, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig.

Ihr Roman ist eine Art Hausbuch, wie es damals im Osten geschrieben wurde, das Ergebnis des aufmerksamen Beobachtens. Die Sprache ist spröde, karg, sie knistert manchmal, schuppt sich wie zu trockene Haut. Vielleicht geht sie gerade deshalb darunter. Protokollarisch, als hätte das nichts mit ihrem Leben zu tun oder zumindest nichts mit Gefühlen, notiert Lena, was sie mit der „komischen Frau“ erlebt.

Schreiben als Heilung

Das Schreiben ist ihr Versuch der Heilung: „Dabei soll mein Glaube mein Schutzschild sein: der Glaube an die reinigende, lindernde und erneuernde Kraft des gesprochenen und geschriebenen Wortes.“

Wer ist diese komische Frau? Die Nachbarin, die in die Wohnung einbricht, der Geist der Vormieterin, Lena selbst? Bedeuten diese Seltsamkeiten die Gegenwart einer anderen Frau – oder ist es die Ich-Erzählerin, der die eigene Gegenwart fremd geworden ist? Ricarda Junges Seelengeistergeschichte lässt jede Deutung bewusst zu – und ist gerade darin so stark.

Zwar bleibt einem Lena ebenso fremd wie die anderen Frauenfiguren des Buches: Seltsam gefühlskalt sind sie. Alle leiden an sich, an der Welt, die Familie ist ihnen entglitten. Unglücklich sind sie, im Jetzt, im Damals, immer. Ihren Seelenschmerz, den macht Junge für den Leser so erlebbar. Aber lesenswert macht diesen kleinen Roman, wie er vom Verlust aller Sicherheit, vom zerbrochenen Lebensmodell und dieser Angst, dass einem alles entgleitet – vor allem man selbst – erzählt. Er lässt den Leser frösteln und den eigenen Ängsten nachspüren, indem er alle Erzählgewissheiten nimmt. Das ist die Stärke. Deshalb sind alle Spekulationen darüber, wie viel Autobiografisches darin stecken mag, müßig. Ja, Ricarda Junge wohnt in der Gegend, hat einige der Stasigeschichten gehört, sie hat ein Kind und hat sich vom Vater getrennt, der Leander nicht unähnlich sein dürfte. Für die Wirkung des Buches ist das egal.

Es ist keine Literatur zum Wohlfühlen. Aber zum Etwas-Lernen, über sich und das Leben: Selbst wenn für den Moment alles zurechtgerückt scheint, jederzeit kann es wieder kippeln.

Ricarda Junge: „Die komische Frau. Roman“. S. Fischer , Frankfurt am Main 2010, 190 Seiten, 17,95 Euro