Opfer rechter Gewalt

Zu Besuch in einem kleinen Solidaritätsprojekt

von GABRIELE GOETTLE

Antje Simnack, Studentin, Gründungsmitglied von Utopia e.V. u. „Kontaktladen“ in Frankfurt (Oder). Einschulung 1980 in d. POS „Geschwister-Scholl“ Ffo., ab 1990 Karl-Liebknecht-Gymnasium Ffo., 1992 Abitur. 1992–1995 Ausbildung z. Buchhändlerin. Derzeit Studium d. Kulturwissenschaften an d. Europa Universität-Viadrina Ffo., und Arbeit f. d. Utopia Projekt (Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt – sowie Kultur-Bildungs- und Jugendarbeit). Antje Simnack wurde 1974 in Bad Saarow-Pieskow/DDR als Tochter eines Juristen und einer Gebrauchswerberin u. Buchhändlerin geboren. Sie ist ledig und hat keine Kinder.

Von 1992 bis heute gab es in Deutschland mindestens 131 Todesfälle, die auf rechts motivierte Täter zurückgehen, über die Höhe der Dunkelziffer wird spekuliert. Die Anzahl der rechten Gewalttaten ohne Todesfolge – vom „einfachen“ Übergriff bis hin zu extremer Grausamkeit und sadistischer Folter, die zu lebenslänglicher Invalidität der Opfer führt – geht in die Tausende. Verlässliche Zahlen gibt es kaum, einige Zeitungen und politische Gruppen erstellen Chronologien und kommen stets, auf Grund anderer Erfassungskriterien, zu wesentlichen höheren Zahlen als der jährliche Verfassungsschutzbericht und die BKA-Statistik. Aber bereits die amtlichen Zahlen sind alarmierend genug. Der Bericht des BKA von 2005 stellt einen Anstieg von 27 Prozent fest bei Körperverletzungen durch Rechtsextreme.

Saufende rechtsorientierte Männerhorden, die dumpf herumlungern und sich nach dem Augenblick sehnen, wo sie sich in eine Hetzmeute verwandeln können, gehören inzwischen in vielen ost- und westdeutschen Städten zum abendlichen und nächtlichen Straßenbild. Wer ihnen nicht passt, kann umstandslos mit einer hohen Gewaltbereitschaft und niedriger Hemmschwelle rechnen, ein Schädelbruch scheint bereits die normale Folge einer solchen Begegnung zu sein. Gefährdet sind nicht nur anders Aussehende, Schwarze, Schwule, Punks, Obdachlose und Behinderte. Ein falscher Blick auf eine Tätowierung, eine Bemerkung genügt, und auch Sie entsprechen dem Feindbild.

Im Haushalt des Bundesfinanzministeriums sind für 2007 19 Millionen Euro vorgesehen für Projekte gegen rechts. Aber die Förderung vieler Opferberatungsstellen ist gefährdet (der Verein „Opferperspektive“ Brandenburg und die mobilen Opferberatungsgruppen bekommen definitiv für 2007 kein Geld aus dem Bundesprogramm). Die zunehmende Gewalttätigkeit und der Terror rechter junger Männer kann aber unmöglich von lahm gelegten Hilfsprojekten und idealistischen Initiativen abgemildert werden.

Um eine solche Initiative zu besuchen, haben wir uns auf den Weg nach Frankfurt (Oder) gemacht. Von Berlin aus ist es nicht weit bis zur Peripherie, was zeigt, dass es selbst dort liegt. In Frankfurt herrscht eine starke Mückenplage. Die winzigen Stechmücken, Kriebelfliegen genannt, wogen in großen Schwärmen durch die Luft, auf der Schnellstraße prasseln sie an die Windschutzscheibe wie ein Regen. Ironie der Geschichte: Dieses Insekt, das sauberes Wasser bevorzugt zur Eiablage, entwickelte sich mangels Industrie und industrieller Abwässer explosionsartig. Es wird sogar eine „Kriebelmücken-Konferenz“ mit Experten geben. Die polnische Seite spritzt Gift, die deutsche nicht. Jedenfalls stehen alle Sitzgärten leer und die Touristen fliehen. Ansonsten wirkt die Stadt überraschend geruhsam, besonders morgens gibt es kaum Berufsverkehr. Stau entsteht nur in der Rosa-Luxemburg-Straße durch den innerstädtischen Grenzübergang nach Słubice. Man findet überall Parkplätze, sogar im Schatten. Die Geruhsamkeit, erklären uns Leute, mit denen wir ins Gespräch kommen, ist die Folge der Massenabwanderung nach Westen. Vor 1989 hatte Frankfurt (Oder) 90.000 Einwohner. Von 1990 bis heute hat die Stadt fast 30 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Daran konnten weder die Neugründung der Viadrina-Universität (1991) mit ihren nur drei Fakultäten und entsprechend wenigen Studenten, noch der schöne Zusatz „Kleist-Stadt“ (1999) etwas ändern.

Wir befinden uns in einem „strukturschwachen“ Gebiet. Mehr als 20 Prozent der Bürger dieser Stadt sind arbeitslos, mehr als 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen leben von Sozialhilfe. Es gibt zweieinhalbtausend Ausländer in etwa, und eine hochgradige Xenophobie. Bei der ersten Bürgerabstimmung dieser Art, stimmten Anfang dieses Jahres 86 Prozent der Bürger gegen eine Verlängerung der Straßenbahnlinie über die Oder hinweg ins polnische Słubice. Allgemeine Meinung: „Zum Tanken brauchen wir das Auto!“ Eine ältere Frau, Bewohnerin einer Plattenbausiedlung im Stadtteil Neu-Beresinchen erzählt uns: „Das wird hier immer keimiger, seit Jahren putzt keiner mehr das Treppenhaus. Hier wird sich nie mehr was ändern; das sehen sie schon daran, dass 3.500 Wohnungen abgerissen worden sind … Im Prinzip leben nur noch Verlierer in der Stadt – und die, die die Verlierer verwalten …“ Wer abends in der Dämmerung über die Autobahn kommt, kann eine angestrahlte Investruine sehen. Sie steht im „Technologiepark Ostbrandenburg“, ist 230 Meter lang und 84 Meter breit und 20 Meter hoch. Die 2003 gescheiterte Chipfabrik war eines der ehrgeizigsten Großprojekte in den neuen Bundesländern, es endete mit einem wirtschaftspolitischen Desaster und verschlangt 80 Millionen an Steuergeldern.

Utopia e.V. liegt im Nordosten von Frankfurt, in der Lebuser Vorstadt. Das ehemals gutbürgerliche Eckhaus aus Backstein beherbergt neben einer Eckkneipe und einem Friseur mehrere Wohngemeinschaften und einen Polizisten mit Familie. Im Hinterhof gibt es kleine Gewerbetreibende und unter Bäumen stehen Tische und Bänke, ein Feuerkorb und eine Kinderrutsche. Hier trifft sich die Hausgemeinschaft und feiert Feste. Über der Tür des Kontaktladens steht in bunter großer Kistenschrift „Utopia“. Wand und Türen sind mit deutschen, polnischen und lateinamerikanischen Plakaten und Aufklebern bedeckt. In dieser Wohnung befinden sich sozusagen alle Projekte samt Büro, Bibliothek und Archiv. Wir werden von Antje einen Stock höher in der Wohngemeinschaftsküche empfangen. Die Einrichtung ist alt, zusammengewürfelt, einfach und praktisch. Wir trinken einen Tee und Antje erzählt:

Utopia‘ arbeitet seit 1998. Die Leute sind schon seit Mitte der 90er-Jahre aktiv, ursprünglich in der Hausbesetzerszene, hier in Frankfurt, und nachdem das letzte Haus zu Bruch gegangen ist, entstand natürlich das Bestreben, ein neues Haus zu kriegen. Und so hat sich ‚Utopia‘ entwickelt. Es war eigentlich anfangs als Deckmantel gedacht, damit man was Legitimes hat, also einen Verein mit Satzungen usw., der in einem eigenständigen Hausprojekt Bildungs-, Jugend- und kulturpolitische Arbeit machen kann. Wir hatten zwar von der Stadt eine Zusage, es ist aber nichts passiert. Wir haben das Projekt trotzdem beibehalten, uns viel in Wohnungen getroffen, das war aber immer zu eng. Dann wurde hier im Haus eine vom Schimmel befallene Wohnung frei, die nicht mehr vermietbar war. Die haben wir dann übernehmen können und 2000 den Kontaktladen eröffnet, wo sich die einzelnen Gruppen treffen. Unter Utopia e.V. ist jetzt zusammengefasst: Die Asylberatung, und 2002 hat sich dann die ‚Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt‘ angesiedelt – dann gibt es die Jugend- und Bildungsarbeit und ‚Tokarina‘ natürlich, das ist eine deutsch-polnische Gaukeltruppe, ein kleiner Zirkus, eines unserer letzten große Projekte. Und dann gibt es auch noch ein Rote-Hilfe-Projekt, das von den Jugendlichen selbst initiiert ist, denn das ist ja auch unser Anspruch bei der Jugendarbeit, ‚emanzipatorisch partizipatorisch‘ (sie lacht), selber Ideen entwickeln und umsetzen.

Leider haben wir hier ein großes Problem mit der Jugendabwanderung. Wenn die ihre Schule fertig haben, dann wird’s hier in der Stadt schon sehr eng mit Ausbildung. Unser Schwerpunkt bei der Jugendbildungsarbeit ist ganz viel Aufklärung in Sachen NS-Diktatur, es ist wichtig, denen ein gutes theoretisches Wissen zu vermitteln. Wir haben festgestellt, dass viele mit einer ungeheuren Plattheit argumentieren, und wenn man genauer nachfragt, können sie schon nicht mehr. Also ist es wichtig, ihnen Kenntnisse und Erfahrungen an die Hand zu geben, damit sie argumentieren können. Wir sind z. B. alle zwei Jahre mit Jugendlichen nach Auschwitz gefahren. Also, das sind alles interessierte Jugendliche, die das freiwillig machen und dort nicht mit Kopfhörer und Handy rumrennen.

Und dann machen wir Öffentlichkeitsarbeit. Immer wenn in Frankfurt irgendwas los ist, wie z. B. das Brückenfest, da sind wir natürlich präsent, haben einen Stand. Aber wir verteilen eben nicht nur Broschüren, sondern haben auch ‚Tokarina‘ immer dabei, die präsentieren sich und jonglieren und das wollen wir auch weiterhin machen, so eine deutsch-polnische Gruppe. Also wichtig ist immer, die Informationen weiterzugeben, dass die Schüler dann auch an den Schulen solidarisch was miteinander machen. Und was jetzt die Beratungsstelle betrifft, so fing das eigentlich so an, dass 1999 ein Jahr war, wo sehr viele Angriffe von rechts waren, und ‚Utopia‘ konnte das eigentlich nicht abdecken. Dieser Gewalt stand man erst mal ratlos gegenüber, wir haben gesehen, wir müssen den Opfern beistehen. Das war eben die Schwierigkeit. Und da haben wir dann beschlossen, wir machen so eine Beratungsstelle auf. So ähnlich wie die ‚Opferperspektive‘ in Potsdam, die sich seit 1998 um Opfer rechtsextremer Gewalt in Brandenburg kümmert, auch um deren Angehörige, therapeutische, finanzielle und juristische Hilfe organisiert usw. Es ist sehr wichtig, dass in den einzelnen Städten Leute sitzen, die sich kümmern, die die Strukturen kennen.

Also, es gibt hier zum einen die klassischen Glatzköpfe, aber schon seit ein paar Jahren gibt es auch diese Jugendlichen mit gutem Haarschnitt, solariumbraun, gute Klamotten, wo die Gesinnung nicht auf Anhieb zu sehen ist. Die wirken wie ganz normale Diskobesucher und Jugendliche. Oft wird dann auch von Seiten der Polizei bagatellisiert, da heißt es dann, es war eine Schlägerei unter Jugendlichen, ganz normal, ohne rechten Hintergrund, alle waren alkoholisiert usw. Der Schäuble hat sich ja so geäußert, es könnte sich genauso abspielen, dass Blonde von Dunklen angegriffen werden. Es ist ja überhaupt so, dass Gegenwehr der Opfer bereits mit Aggression gleichgesetzt wird. Da fragt man sich, wo führt das hin, wenn man sich nicht wehren darf, nicht mal verbal, sonst wird einem das Opfersein aberkannt?! Oft ist es ja so, dass die Opfer über den Vorfall schweigen, dann erfahren wir gar nichts, oder nur durch einen Zufall von der Sache. Also müssen wir auch viel recherchieren und dann eben Kontakt aufnehmen und unsere Hilfe anbieten. In den letzten zwei Jahren waren es vor allem Immigranten, Flüchtlinge, alternative Jugendliche, die angegriffen wurden. Sie werden einfach so auf der Straße angepöbelt, es werden ihnen Flaschen nachgeworfen oder sie werden gejagt und zusammengeschlagen, nur aufgrund ihres Äußeren. Weil sie Punks sind oder dunkelhäutig heißt es: So, jetzt seid ihr dran!

Ein Fall zum Beispiel war 2004? Nee, 2005? Da muss ich nachgucken. Da wurden zwei Flüchtlinge angegriffen, zwei Afrikaner. Sie waren in der Diskothek B5, vorn im Zentrum in der Lenné-Passage, da gab’s schon die ersten Anfeindungen, und als sie vom Tanzen zurückkamen, befand sich im Bierglas eine Zigarettenkippe. Also sie wurden die ganze Zeit angepöbelt und sind dann auch gegangen. An der Haltestelle wurden sie wenig später von rechten Jugendlichen angegriffen und richtig zusammengeschlagen. Also der eine konnte sich befreien und fliehen, der andere, Benedict A. aus Sierra Leone, wurde weiter geschlagen und getreten. Glücklicherweise kamen dann Leute, die sind hingerannt, und da haben die Täter abgelassen. Das war ein Fall, der ausnahmsweise mal etwas größer in den Medien war. Wir haben dann die ‚Opferperspektive‘ dazugeschaltet – so schwere Sachen bearbeiten wir zusammen – und da kam dann jemand aus Potsdam hierher und ist mit jemandem von uns ins Krankenhaus gefahren, und da haben sie dann dort direkt mit dem Opfer gesprochen …“

Ich frage: „Wie macht ihr das, wenn ihr ins Krankenhaus geht, bringt ihr ihm etwas mit?“ Sie sagt verlegen: „Eigentlich nicht. Nee… Also sie haben sich vorgestellt, ihre Arbeit vorgestellt und empfohlen, eine Anzeige zu machen, erklärt, welche Hilfen wir ihm geben können. Aber unser Beistand ist natürlich nicht abhängig vom Erstatten einer Anzeige. Die Beratung ist selbstverständlich kostenlos und vertraulich. In diesem Fall ist es dann zur Anzeige gekommen, der Mann hatte ja schwere Kopfverletzungen, wir haben ihn beim Prozess betreut und betreuen ihn eigentlich heute noch, weil er traumatisiert ist. Da entsteht natürlich ein großes Vertrauensverhältnis. Das Vertrauen ist ganz wichtig. Es spricht sich in so einer kleinen Stadt schnell rum, die und die sind ‚gute Leute‘, und dann wird man automatisch weiter empfohlen. Wir haben hier eine gute Ausländerbeauftragte in der Stadt, Margit Steuer, mit der wir viel zusammenarbeiten.

Die Leute haben sehr viel Vertrauen zu ihr. Wen sie an uns weiter empfiehlt, der hat auch Vertrauen zu uns. Und natürlich kennen wir viele Leute bereits aus unserer Asylberatung, wie auch in diesem Fall. Und das zieht sich dann oft sehr lange hin. Der Fall kam erst jetzt, 2006, vors Gericht. Die Urteile waren, glaube ich, zwei Jahre ohne Bewährung und zwei Jahre mit Bewährung. Aber damit ist die Sache ja nicht ausgestanden. Vor ein paar Monaten bekamen wir einen Anruf, dass ein Auto vorgefahren ist am Flüchtlingsheim, da saßen Faschos drin und haben gedroht, Benedict soll aus Frankfurt verschwinden, Deutschland verlassen, sonst passiert ihm noch was Schlimmeres! Er hat damit natürlich seine Probleme, wir telefonieren miteinander. Er hat sich entschieden aktiv zu werden, sich öffentlich zu präsentieren bei der ‚Woche des ausländischen Mitbürgers‘, und es wurde auch eine große Demo gemacht, zusammen mit einem Berliner Flüchtlingsprojekt, hier in der Stadt, und da hatte sich die Bürgermeisterin sogar bereit erklärt, eine Petition entgegenzunehmen vor dem Rathaus. Aber insgesamt ist es natürlich deprimierend, unter solchen Umständen zu leben, bei ewig dauernden Asylverfahren.

Und für uns ist erschreckend, dass es einfach nicht aufhört. Wenn man zum Beispiel als Prozessbeobachter hinten im Saal sitzt, da hört man dann Sachen, die vorn der Richter oder die Richterin gar nicht mitkriegen. Ich habe gesehen, wie Angeklagte in der Pause, kurz vor dem Hinsetzen eindeutige Handzeichen zum Opfer hin machen. Das kann doch wohl nicht sein! Die sehen das nicht, die begreifen überhaupt nicht, was sie dem Menschen da angetan haben!

Aber wir müssen oft auch recherchieren, weil die Fälle uns nicht angetragen werden, da müssen wir uns dann um die Informationen kümmern. Das betrifft auch den Kreis von Jugendlichen aus unserem Umfeld. Die echauffieren sich zwar, wenn ihnen so was passiert, aber sie behalten das oft für sich, und es folgen keine weiteren Schritte. Und dann sagen wir: Ey, ihr kennt uns doch, rennt im Kontaktladen schon so lange rum, könnt ihr uns die Infos mal klar rübergeben?! Ich denke, dass viele der Meinung sind, wenn man links ist, dann muss es sozusagen mal vorgekommen sein, so eine gewalttätige Begegnung mit Faschos. Das gehört zum ‚guten Ton‘, ganz blöd gesagt. Manche verstehen nicht, dass es wichtig ist, jeden Überfall bekannt zu machen, sonst sagt die Statistik: Rechte Gewalt in Frankfurt (Oder)? Haben wir nicht! Aber wir haben, und wenn man sozusagen – grade wegen der ‚Stolpersteine‘ habe ich mich auch noch mal damit befasst – von 131 Toten ausgeht, bundesweit seit der Wende, so wie es die ‚Opferperspektive‘ noch mal recherchiert hat, dann bleibt einem die Sprache weg! Mir geht es jedenfalls immer so. Diese Menschenverachtung müssen wir ganz ernst nehmen. Du darfst leben, du darfst nicht leben! Da bleibt einem ja die Spucke weg!

Und da ist mir egal, ob der rechte Jugendliche irgendwie organisiert ist oder einfach nur rechtes Gedankengut irgendwie im Kopf hat, weil’s schick ist oder sonst was. Hier in Frankfurt haben wir ja auch einen Todesfall, 2003, einen Punk. Er wurde in seiner Plattenbauwohnung von Rechten überfallen, beraubt und umgebracht. Und irgendwie konnte dann kein rechter Hintergrund der Tat festgestellt werden, weil das Motiv der Raub war, so habe ich’s in Erinnerung. Und seinen Bruder, den sehe ich jetzt in der – wie heißt das jetzt? – ‚Anti-Antifa‘ rumrennen. Oh Mann! Sein eigener Bruder, der Punk, wurde von seinen eigenen Kumpels sozusagen getötet. Er kennt die ja alle. In so einem Fall müssten doch irgendwann mal die Lichter aufgehen?!

Und 2004 hatten wir diesen Überfall mit Vergewaltigung, ein Mann Anfang 30 aus Frankfurt, für uns ein ‚Alt-Punk‘, ist in eine Wohnung verschleppt worden und dort über mehrere Stunden … also ich will aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, den wir hier wahren, gar nicht so ins Detail gehen, aber der Fall war ja in den Medien …“ Ich habe nachgelesen und fasse kurz zusammen: Am 5. Juni 2004 wurde Gunnar S. im Stadtteil Neu-Beresinchen – auf offener Straße am helllichten Tage – entführt und in eine Wohnung verschleppt. Die Täter, drei Neonazis in Begleitung von zwei Frauen, behaupteten, Gunnar S. habe eine 15-Jährige vergewaltigen wollen. Unter diesem erfundenen Vorwand quälten und folterten ihn die Männer im Beisein der Frauen mehr als zwei Stunden lang in äußerst sadistischer Weise, verbrannten ihm u. a. mit einem Bügeleisen Brustwarzen und Rücken, fügten ihm Schnitte zu und vergewaltigten ihn anal mit verschiedenen Gegenständen. Dann ließen sie ihr blutendes Opfer liegen.

Später wurde er von einer jungen Frau aufgefunden. Während sie den Notarzt anrief, machte ihr Freund Fotos von dem malträtierten Opfer. Er verkaufte die ‚Schnappschüsse‘ dann an die Bild-Redaktion. Im Krankenhaus musste eine Notoperation gemacht werden, der Darm des Opfers war zur Bauchhöhle hin durchstoßen, es musste ein künstlicher Darmausgang gelegt werden, der Patient wurde in ein künstliches Koma versetzt. (Frank Jansen vom Tagesspiegel hat ausführlich darüber berichtet. Es gab eine Spendenaktion, von deren Erlös Gunna S. sich nach der Gerichtsverhandlung eine Schrebergartenparzelle kaufte.) Das Landgericht Frankfurt (Oder) fällte im Juni 2005 sein Urteil: Die drei Männer wurden mit 13 1/2, 10 und 9 1/2 Jahren Haft bestraft, die beiden Frauen verließen den Gerichtssaal mit je 2 Jahren auf Bewährung.

Antje fährt fort: „Jemand von uns und von der ‚Opferperspektive‘, die haben den Fall dann betreut. Und wir konnten sogar erreichen, dass Gunnar S. seinen Peinigern vor Gericht nicht gegenübersitzen musste, das wäre ihm unmöglich gewesen. Er durfte von einem Nebenraum aus über eine Videokamera seine Aussagen machen. Bei der ersten Befragung durch die Kriminalpolizei wollte er gar keine Aussage machen, aus Angst. Also, da waren immens viele Treffen nötig und Gespräche, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten, auch um ihn immer wieder etwas rauszuholen aus seiner tiefen Depression. Das war so ein Fall, wo, wenn du ehrenamtlich arbeitest, dann kannst du eigentlich das für diesen Menschen Nötige gar nicht leisten, das übersteigt die Kräfte. Er hat natürlich dann auch professionelle Hilfe bekommen. Wir haben heute noch Kontakt, auch zu seiner Mutter. Die Zeit, die jemand nach so einer Sache braucht, die kann lang sein, da sind wir halt da. Das muss man nicht groß politisieren. Also das waren so die beiden Fälle, die uns 2005 hauptsächlich beschäftigt haben in der Beratungsstelle: der Überfall auf die Afrikaner und auf Gunnar S.

Und neben der Beratungsarbeit und der Prozessbegleitung und Prozessbeobachtung usw. machen wir ja auch noch die Dokumentation. Auch die der Gerichtsverhandlung. Jeder rechtsextreme Angriff in Frankfurt (Oder) wird von uns dokumentiert und in anonymisierter Form an die ‚Opferperspektive‘ weitergegeben, für die Chronik rechtsmotivierter Angriffe im Land Brandenburg. Im Moment ist es etwas ‚ruhiger‘, 2006 gab’s zwar ein paar Vorfälle, die waren aber nur zur Dokumentation. Wir machen das ja ehrenamtlich und müssen mit ganz wenig Mitteln auskommen. Der ‚Kontaktladen‘ unten braucht keine Miete zahlen, nur Betriebskosten und die übernimmt das Jugendamt Frankfurt, und alles andere, beim ganzen Rest, samt Porto und Telefon, da müssen wir gucken, wie wir das reinkriegen. Anfangs, als die Asylberatung mit zu uns reinkam – die war vorher in der Rosa-Luxemburg-Straße und auch bei uns dann quasi unabhängig –, da wurde die noch mit einer Stelle finanziert. Als die Finanzierung dieser Stelle dann wegbrach, haben zwei von unseren Leuten hier gesagt, okay, wir machen das ehrenamtlich mit, bevor es eingeht, das war so 2000, und dann kam ja auch die Beratungsstelle noch mit dazu, damals, eben ganz konkret als Reaktion auf die Vorfälle.“

Auf die Frage, wovon sie eigentlich lebt, sagt sie lachend: „Ich habe zwei Nebenjobs momentan, neben meinem Studium. Und da mach ich eben das, was es in Frankfurt so gibt. Ware auspacken zweimal die Woche in den frühen Morgenstunden. Und dann verkaufe ich drei- bis viermal die Woche an so einem Verkaufsstand Äpfel. Aber ich beklage mich nicht. Ich finde das gut, so von mehreren Seiten in die Welt einzutauchen. Das ist ein guter Gegensatz zum Studium. Und es ist ja so, dass sich hier in der WG vieles überschneidet, wir haben uns zusammengefunden und haben immer geguckt, welche Sachen können wir zusammen machen, welche nicht.“ Wir fragen nach der Jugendarbeit, den Auschwitz-Fahrten. „Früher fuhren wir alle zwei Jahre. Dieses Jahr ist es irgendwie flachgefallen. Man kriegt das Geld von irgendwelchen Stiftungen ran, oder man kriegt es nicht ran. Meistens sind wir dann mit wenig Geld, und mit einem Unkostenbeitrag von den Jugendlichen selbst, losgefahren. So 45 Leute, Jungs und Mädchen von 16 bis 22 Jahren. Letztes Jahr war ich das erste Mal mit gewesen, wir waren in einer Jugendherberge untergebracht. Es war manchmal schon ziemlich schlauchend, sie haben gestöhnt, wollten nicht so viel gehen, aber sie setzen sich schon auch damit auseinander. Also bei denen, da tut sich einfach was. Und die wollen natürlich schon genauer wissen, woher das kommt, dass sie auf der Straße angepöbelt werden.

Und zu ‚Tokarina‘ – was übrigens von Tokari (poln. Dreher) kommt –, also das ist unsere Gaukler- und Jongliertruppe, von der ich vorhin erzählt habe. Jetzt im Sommer wird’s wieder losgehen. Wir haben jetzt jemand aus dem Asylbewerberheim, der hat früher auf einem Luxusschiff als Animateur gedient, und er hat der Gruppe noch mal so einen richtigen Kick gegeben. Ich bin mal gespannt, also Neueinsteiger und Menschen mit Vorkenntnissen sind uns jederzeit willkommen. Das Projekt ist mir sehr wichtig, denn es ist ja eins für Kinder, von denen viele mangels finanzieller Ressourcen der Eltern hier bleiben müssen. Und die aus Słubice sind sowieso ärmer. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutet ‚Tokarina‘ ganz viel Spaß und Selbstbestätigung, und für uns ist es gut zu wissen, dass aus denen mal mit Sicherheit keine Faschos werden.

Da fällt mir ein, was ich vergessen habe. Wir haben da noch so eine Wanderausstellung: ‚Deutschkunde, Karikaturen gegen rechte Gewalt‘. Die läuft immer noch. Das war ursprünglich die Initiative eines Karikaturisten aus Düsseldorf, 80 Karikaturisten haben Arbeiten zum Thema unentgeltlich zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, und der Erlös dieses Buches ging dann an Opfer rechter Gewalt. Die Wanderausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt von ‚Opferperspektive‘, RAA-Berlin und ‚Utopia‘. Zu jeder Karikatur gibt es ein ‚Meinungsbuch‘ für den Besucher, wo jeder unzensiert seine Meinung reinschreiben kann. Und dann gibt es noch mal so ein Begriffsheft, wo bestimmte Sachen aufgeklärt werden, wie zum Beispiel ‚Arbeit macht frei‘, damit die Jugendlichen überhaupt verstehen lernen. Es gibt auch Tonbeispiele und Materialien für den Schulunterricht. Auftaktveranstaltung war 2003 hier im Friedrichs-Gymnasium, und sie wurde sogar bei uns in der Jugendhaftanstalt gezeigt. Das war damals vor allem meine Arbeit, diese Ausstellung zu konzipieren. Ja also, das ist im Wesentlichen das, was wir hier machen …“

Gebeten, noch ein paar biografische Details zu erzählen, lacht sie und sagt: „Ich weiß nicht, ob dieser Aktionismus bei mir, ob der von meinen Eltern geprägt ist. Ich bin ein ganz normales Krippenkind gewesen, war im Kindergarten usw. Meinen 10.-Klasse-Abschluss hab ich noch zu DDR-Zeiten gemacht. Genau zu der Zeit, 1990 gab’s die ersten Hausbesetzungen hier in Frankfurt. Ich hab mich damals so in ‚Alt-Peacer‘-Kreisen bewegt, eigentlich reingeschubst durch meine Mutter. Also das waren Leute, so 40, 45, die hörten Led Zeppelin und so was. Sie waren nicht unbedingt politisch, aber der Lebensstil war anders, sie sagten: Zack, jetzt fahren wir nach Ungarn oder nach Russland! Das waren die ‚Alt-Peacer‘, die Langhaarigen. Und ich war vorher in der Schule eine ziemliche Aktivistin. (Sie lacht) Ich hatte so richtig hochtrabende … äh … also Pionier, Wandzeitungsredakteur, und die letzten zwei, drei Jahre wurde ich gewählt zum GOL-Vorsitzenden. ‚Grundorganisationsleitung‘. Das war das Höchste, was man als Schüler erreichen konnte. Und wir hatten an der Schule einen Schülerklub, um diesen ganzen kulturellen Bereich zu beleben. Und wir hatten ganz frühzeitig einen Schülerrat, als eine der ersten Schulen im Land Brandenburg. Da war ich dann auch Schülerratsvorsitzende (lacht). Ich weiß noch, dass meine Eltern zu Hause immer viel diskutiert haben. Meine Mutter hat ja als zweiten Berufsweg eine Buchhändlerausbildung gemacht, und im Fach ‚Marxistisch-Leninistische-Lehre‘ da hat sie das nicht gerafft, hat immer gesagt, nee, so ist das nicht. Und mein Vater, der nebenberuflich Parteilehrer war, der hat ihr alles von hinten bis vorn auseinander klamüsern müssen. Daneben hab ich Hausaufgaben gemacht und immer zugehört.

Meine Mutter hat ja als Gebrauchswerberin gearbeitet, das waren Leute, die Schaufenster zum Beispiel gestalten. Sie hat auch Plakate gemalt für den 1. Mai. Das war ganz toll! Also zu Hause bei uns wurde viel gemacht und viel diskutiert. Und ich hab in der Schule auch viel diskutiert und war für die Hälfte der Lehrerschaft dann abgebürstet, weil ich Hausbesetzer wurde, nach der Wende. Aber die Hausbesetzung hatte ja dann ihr Ende. 92 habe ich Abitur gemacht – ich hatte ja noch diese Zwölf-Klassen-Ausbildung.

Danach bin ich dann erst mal so Richtung Friedensbewegung, also mehr so in Richtung ‚Umweltbibliothek‘ gegangen und habe meine Buchhändlerlehre gemacht. Ich war fast so ein bisschen abtrünnig geworden. Aber im zweiten Lehrjahr kam es dann wieder zur Hausbesetzung. Hab ich gesagt: Einmal Blut geleckt, immer Blut geleckt. Da bin ich wieder! Und als wir dann das Haus verloren hatten, da haben wir sogar versucht, den offiziellen Weg zu gehen, Konzepte geschrieben, alles. Aber die Stadt hat uns immer wieder vertröstet, bis uns klar wurde, die haben definitiv kein Interesse daran! Es wurde sogar das abgebaut, was es noch gab, zum Beispiel den Jugendtreff, da konnten wir immer Konzerte machen, ganz billig. Aber irgendwann wurden die Räume übernommen von einer Institution aus Berlin, und die Preise sind derart in die Höhe geschnalzt, dass keiner sich das mehr leisten konnte.

Unser Traum war immer, ein Gebäude oder so was zu haben, was man für verschiedene Zwecke nutzen kann. Was ein Anlaufpunkt ist für junge Leute, für verschiedene Projekte, für Konzerte, Ausstellungen, Filmvorführungen, Veranstaltungen, für ein Café vielleicht. Die Jugendlichen haben es ja noch mal versucht, sind aber kläglich gescheitert. Wir haben zwei Büros und dann noch drei Räume, in denen kann man grade mal mit ein paar Leuten was machen, das ist alles. Es ist nicht viel, aber wir versuchen, was draus zu machen. So, das war’s. Es wird Zeit, ich muss noch meine Rede ausdrucken, die ich heute Abend im Rathaus halten werde, anlässlich der Verlegung der ‚Stolpersteine‘. Das ist ja so ein Künstlerprojekt, der Mann hat schon 7.000 verlegt in Deutschland, zur Erinnerung an NS-Opfer. Sieben Steine werden heute in Frankfurt verlegt. In der Projektgruppe arbeiten alle zusammen, Konfessionelle, Bund der Antifaschisten, Jüdische Gemeinde, Stadtverordnetenversammlung und ‚Utopia‘. Wir haben zwei Steine gestiftet.“

Wir kommen gerade noch rechtzeitig zum Ende der Zeremonie in die Kleine Oderstraße. Das Fernsehen ist da, eine Gruppe älterer und auch junger Leute hat sich versammelt. Am Boden glänzt blumengeschmückt die Messingplatte für Herbert Jensch, der hier wohnte, Arbeiter und Nazigegner, am 5. 8. 1944 ermordet.