Anti-AKW-Demo: "Es geht wieder los"

Unter dem Motto "Mal richtig abschalten - Atomkraft? Nein danke!" feiert die Bewegung ein fulminantes Comeback.

Abschlusskundgebung r vor dem Brandenburger Tor: Mehr als 50.000 TeilnehmerInnen zählen die Veranstalter. Bild: Wolfgang Löhr

Margret Ulrich hat Tränen in den Augen. Fünf Tage lang hat die 72-jährige Dortmunderin den Treck der Bauern von Gorleben nach Berlin auf dem Fahrrad begleitet und ist quer durch Norddeutschland gefahren. Ja, sie hat erwartet, dass viele kommen würden. Immerhin waren aus über hundert Städten Busse angekündigt worden. Und der Sonderzug aus Nordrhein-Westfalen war auch voll.

Doch was sie an diesem Samstagmittag vor dem Berliner Hauptbahnhof erlebt, übertrifft ihre Erwartungen: Der große Vorplatz ist ein gelbes und grünes Fahnenmeer. Erst als die Menschenmasse die Spitze der Demonstration nach vorne drückt, können die tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die noch im Bahnhof sind, langsam auf den Platz nachrücken. Seit 24 Jahren sei sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv und habe alle großen Kundgebungen der Siebziger- und Achtzigerjahre mitgemacht, erzählt Ulrich. "Dass wir noch mal so viele werden würden - das habe ich mir nicht träumen lassen."

Bei der Abschlusskundgebung drei Stunden später vor dem Brandenburger Tor werden die Vertreter von der Bäuerlichen Notgemeinschaft und der Bürgerinitiative aus Lüchow-Dannenberg von der größten Anti-Atom-Demo seit dem Tschernobyljahr 1986 sprechen. Mehr als 50.000 TeilnehmerInnen zählen die Veranstalter. Die Polizei spricht erst von "mehreren zehntausend", nennt dann die Zahl 36.000. Am Ende gibt ein Sprecher zu, dass die Zahl der Veranstalter "durchaus realistisch" sei.

Und es sind bei weitem nicht nur die 350 Trecker, vierspurig geparkt auf der Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule, die den Protest so groß erscheinen lassen. Grün und gelb kostümierte Stelzenläufer stapfen umher. DemonstrantInnen schieben gelbe Atomfässer vor sich her. Eine andere Gruppe trägt ein drei Meter hohes, aufblasbares Kraftwerk auf ihren Schultern. Auf einem mit gelben Fässern beladenen Wagen stehen große Puppen in Nadelstreifenanzügen und mit Schweineköpfen. "Der Trog bleibt, die Schweine wechseln", lautet der Spruch am Wagen. Auf anderen Bannern stehen Slogans wie "Den Atomkonzernen den Stecker ziehen" oder "Merkel-Wähler brauchen Geigerzähler". Und überall die gelben Fahnen mit der berühmten roten Atomsonne und dem Slogan, der bereits das Bild der Bewegung in den Siebzigerjahren prägte: "Atomkraft? Nein danke!"

Zwischen den vielen jungen Menschen, die beim Tschernobyl-GAU gar nicht geboren waren, laufen viele ältere mit grauen Pferdeschwänzen und ausgebleichten Anti-Atom-Shirts mit. Dass der Protest die Generationsgrenzen überschreitet, zeigt die Bäuerliche Notgemeinschaft: Für sie spricht der 25-jährige Landwirt Fritz Pothmer - begleitet von seinem Vater, der beim legendären Gorlebentreck vor 30 Jahren in Hannover eine Rede gehalten hat.

Ebenfalls nicht zu übersehen: die Fahnen und Plakate der Grünen. Mindestens 5.000 Demonstranten habe die Partei mobilisiert, sagt Grünen-Geschäftsführerin Steffi Lemke. Auch das ist eine Renaissance: Nach dem rot-grünen Regierungsantritt 1998 waren Grüne - zumindest wenn sie als Parteimitglieder auftraten - in der Bewegung nicht gerade erwünscht. Rot-Grün hatte den Atomausstieg zwar beschlossen, aber mit Laufzeiten, die den AtomkraftgegnerInnen als viel zu lang erschienen. Die Bürger hätten den Ernst der Lage erkannt, sagt Lemke. Komme es zu einer schwarz-gelben Bundesregierung, werde es einen Ausstieg aus dem Atomausstieg geben. Alle Mühen von sechs Jahren Rot-Grün wären umsonst.

Auch Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD), der sich wegen anderer Termine entschuldigen lässt, solidarisiert sich mit dem Protest. Ein "Signal" an die Union und Bundeskanzlerin Angela Merkel sei die Demo, lässt er wissen: "Hört endlich auf, den verlängerten Arm der Atomindustrie zu spielen." Und das Problem der Endlagerung des Atommülls könne nicht gegen die Bevölkerung und nicht mit noch mehr Atomkraft gelöst werden.

Wie glaubwürdig Grünen-Geschäftsführerin Lemke das Atomausstiegsgerede der Sozialdemokraten nach vier Jahren Koalition mit der Union findet? "Ich kritisiere die SPD nicht fürs Umschwenken", sagt sie.

Selbst die Union ist nicht völlig unbeeindruckt. Zwar hält sie - wie auch die FDP - an der Forderung nach längeren AKW-Laufzeiten und dem Endlagerstandort Gorleben fest. Doch der bayerische Umweltminister Markus Söder (CSU) kündigt hinterher immerhin an, dass er bei einer Laufzeitverlängerung Gegenleistungen von den Konzernen erwarte, unter anderem einen Beitrag zur milliardenschweren Sanierung des maroden Atommüllzwischenlagers Asse.

Deutlichere Unterstützung als von den Christlich-Sozialen kommt auf der Demonstration von anderen Christen: Für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg sagt Pröbstin Friederike von Kirchbach auf der Abschlusskundgebung: "Diese Art der Energiegewinnung ist mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht zu vereinbaren." IG-Metall-Chef Berthold Huber wird von einer Gewerkschaftskundgebung in Frankfurt am Main zugeschaltet und fordert: "Es darf keinen Ausstieg aus dem Atomausstieg geben." Und auch auf die Unterstützung von Unternehmern können die Atomkraftgegner setzen.

Längere Laufzeiten würden den Ausbau der Erneuerbaren Energien blockieren, sagt Hermann Albers, Vizepräsident des Bundesverbands Erneuerbare Energie, der einzige Redner auf der Bühne in Anzug und Krawatte. Atomenergie verstopfe Stromnetze, gefährde den Vorrang der erneuerbaren Energien bei der Netzeinspeisung und stelle auf diese Weise künftige Milliardeninvestitionen des deutschen Mittelstands infrage. "Ein harmonisches Miteinander der Technologien ist ein Märchen der großen Energiekonzerne", sagt Albers.

Ausruhen wollen sich die Atomkraftgegner nach ihrem Erfolg vom Samstag nicht. Im Gegenteil: Es werde nicht ausreichen, bei der Bundestagswahl atomkritische Parteien zu wählen, sagt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation "Ausgestrahlt". Er kündigte an, dass die AktivistInnen unabhängig vom Wahlausgang die diesjährigen Koalitionsverhandlungen genau verfolgen werden. In Berlin wollen sie während dieser Zeit eine "ständige Vertretung" einrichten, um bei jeder Verhandlungsrunde vor Ort demonstrieren zu können.

Und auch ins Guinness-Buch der Rekorde wollen es die Atomkraftgegner schaffen. Stay berichtet, dass Gruppen im ganzen Bundesgebiet derzeit Transparente anfertigen, die dann in Berlin zusammengenäht werden sollen. "Wir planen das größte Anti-Atom-Banner der Welt und werden die Koalitionäre damit einwickeln."

Für Stay hat die Demo gezeigt, dass der Protest gegen Atomenergie durch alle Bevölkerungsschichten gehe. "Wenn die Politik den alten Streit um die Atomkraft weiter befeuern will, kann sie das haben." Und in einem nicht ganz unerfreuten Ton fügt er hinzu: "Es geht wieder los!"

FRIEDERIKE VON KIRCHBACH, EVANGELISCHE KIRCHE BERLIN-BRANDENBURG

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