Die Schulung der Wahrnehmung

Kritik der Kritik (2): Wer heute über Film schreibt, zehrt nicht mehr vom Glanz einer a priori progressiven Haltung – und doch kann die Filmkritik trotz der Allgegenwart von Dutzendware helfen, zu sehen, was man ohne das Kino nicht wahrnähme

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es denn damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Konsumindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

VON CRISTINA NORD

Kürzlich besuchte ich die Pressevorführung von „Trennung mit Hindernissen“, einer romantischen Komödie mit Vince Vaughn und Jennifer Aniston. Der Film war langweilig, seine Auffassung von Partnerschaft und Geschlechterrollen deprimierend, und die einzigen Pointen, an die ich mich erinnere, gingen auf Kosten einer jüdischen Galeristin und der von ihr ausgestellten abstrakten Kunst. Im umgekehrten Verhältnis zur Durchschnittlichkeit dieser Komödie stand der Aufwand, der um sie betrieben wurde: Bevor ich den Kinosaal betreten durfte, musste ich mich auf mitgeführte elektronische Geräte untersuchen lassen. Mein Mobiltelefon musste an der Garderobe bleiben, während der Vorführung patrouillierten Aufpasser mit Nachtsichtgeräten die Gänge auf und ab, um zu kontrollieren, dass niemand heimlich filmte, was auf der Leinwand geschah. Wie eine Pretiose wurde hier behandelt, was nichts als Dutzendware war.

Wie reagiert man als Filmkritiker auf diese Diskrepanz? Soll man den Film ignorieren? Verreißen? Darüber klagen, dass „Trennung mit Hindernissen“ Leinwände beansprucht, die andere Filme bitter nötig hätten? Und was erst tut man, wenn man es Woche für Woche mit Filmen wie diesem zu tun hat? Voller Pessimismus schreibt Jonathan Rosenbaum, ein cinephiler Filmkritiker aus Chicago: „Selbstverständlich steht es Filmkritikern frei, ihrem negativen Urteil über einzelne große Studioproduktionen Ausdruck zu verleihen. Was ihnen aber in der Mehrheit der Fälle nicht freisteht, ist, diese Filme erst gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu viel ihrer Aufmerksamkeit auf solche Filme zu verwenden, deren geringes Marketingbudget sie zu Randerscheinungen für Mainstream-Medien macht.“ Verrisse zeitigen ohnehin keine Konsequenzen: „The Da Vinci Code“ wurde fast überall mit Hohn und Spott bedacht und führte trotzdem bis Anfang Juli die deutsche Besucherstatistik an.

Umso größer wird die Versuchung des Pessimismus, je lebhafter man sich an das Schillern erinnert, das dem Kino einst zu Eigen war. Wer sich vor 30, 40, 50 Jahren für die Sache des Films stark machte, stand automatisch auf der richtigen Seite. Er half, eine populäre Kunstform zur Geltung zu bringen, indem er sie gegen die Apologeten der Hochkultur verteidigte. Das Ergebnis war eine Erweiterung des bürgerlichen Kunst- und Kulturbegriffes. In Deutschland halfen Kritiker wie Frieda Grafe und Enno Patalas, in Frankreich François Truffaut, Eric Rohmer, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard (die selbst schon Filme drehten oder im Begriff standen, es zu tun), die Schönheit John Fords zu entdecken, den Humor Buster Keatons, die Shakespeare’sche Dimension Akira Kurosawas, die Autorschaft Alfred Hitchcocks. Wer sich um die Zeitschrift Filmkritik gruppierte, beharrte zudem auf dem Spezifischen des Filmes, auf dem Bild und dessen Bewegung und auf dem Versuch, eine Sprache zu entwickeln, die den bewegten Bildern gerecht wurde. Es war das Verdienst dieser Kritikergeneration, sich für den Film zu begeistern, ihm ein Forum und eine ernst zu nehmende Form der Auseinandersetzung und der Reflexion zu schaffen.

Manche berufen sich heute noch auf dieses Erbe und verfallen dabei einem Automatismus. Für sie ist jeder Film schützenswert, da er für eine marginalisierte Kunst steht. Doch das ist eine Sinnestäuschung. Der Film ist durchgesetzt, er muss nirgendwo mehr um Anerkennung kämpfen. Wer heute über Film schreibt, kann deshalb nicht mehr vom Glanz einer a priori progressiven Haltung zehren. Er hat kein großes Projekt mehr, er hat das Klein-Klein filmkritischen Alltags. Nicht das Glück des Gipfels, sondern die Mühen der Ebene. Und wenn er Pech hat und die Augen nicht weit genug aufmacht, dann wird die Ebene zur Wüste, in der außer „Trennung mit Hindernissen“, „The Da Vinci Code“ und „Poseidon“ nichts gedeiht.

Was bleibt, wenn die große Geste sich verbraucht hat? Sich zurückziehen auf die Filmgeschichte und sich in der kulturpessimistischen Behauptung einkapseln, seit der Nouvelle Vague / seit New Hollywood / seit dem deutschen Autorenfilm sei ohnehin kein interessantes Kino mehr entstanden? Das ist eine vorhersehbare, dünkelhafte Haltung, die nichts als verbiesterte Texte hervorbringt. Im Gefolge der cultural studies die Gebrauchsware mit Theorie anreichern und dadurch nobilitieren? Funktioniert manchmal wunderbar, bei „King Kong“ zum Beispiel, wirkt aber spätestens bei „The Da Vinci Code“ oder „Matrix 3“ bemüht.

Ausschwärmen in die entlegenen Gefilde der Filmgeschichte und -gegenwart? Zeitigt teilweise aufregende Ergebnisse, wird aber schnell zur Überheblichkeitsgeste: Alle anderen verstehen nichts, aber ich, der ich Lav Diaz’, Pedro Costas und João Cesar Monteiros Oeuvre in- und auswendig kenne, der ich den Namen Apichatpong Weerasethakul ohne einmal zu stocken aussprechen kann, ich weiß, wovon ich rede.

Soll man also lieber vor jeder kritisch-analytischen Anstrengung in eine emphatische Schreibweise flüchten, die sich dem subjektiven Empfinden verpflichtet? Das mag in der deutschen Literaturkritik eine neues Thema sein, in der deutschen Filmkritik ist es eine Diskussion, die vor gut 15 Jahren geführt wurde. Dokumentiert ist sie in dem schönen Band „Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen“. Der französische Kritiker Serge Daney wusste schon vor mehr als zwei Jahrzehnten, wohin die Emphase führt, sobald sie sich von jeder kritischen Unternehmung freimacht: „Wenn man in den ‚populären‘ Zeitschriften oder Zeitungen die Kritiken von denen liest, die sich damit brüsten, nur von der Lust geleitet zu werden, so stößt man auf miserable Dinge, leere Adjektive, Ausrufezeichen, Lautmalereien, auf Dinge, die zu signieren man sich schämen und der Werbung vorbehalten müsste (die wenigstens eine richtige und übrigens besser bezahlte Arbeit ist).“

Doch es gibt Auswege. Einer führt zunächst einen kleinen Schritt zurück. Dabei nämlich entdeckt man, dass schon Kritiker wie Frieda Grafe die Fragen verhandelten, mit denen man sich heute wieder quält. Probleme wie die Ohnmacht der Filmkritik angesichts des Marketings oder die Tatsache, dass man in Cannes und Venedig tolle Filme zu sehen bekommt, die in Deutschland nie einen Verleih finden oder so versenkt werden wie jüngst Jonathan Caouettes experimenteller Tagebuchfilm „Tarnation“, diese Probleme kehren zyklisch wieder. Und wenn man bemerkt, dass alles schon einmal da war, relativiert sich die Ernüchterung. Wenn man sich dann, in einem zweiten Schritt, auf die Primärtugenden der Kritik besinnt – Neugier, Leidenschaft, Entdeckerfreude, Sachverstand und die Fähigkeit, diesen Sachverstand zu vermitteln –, dann ist schon viel gewonnen. Gesellt sich dazu noch eine methodische Vielfalt, kann es losgehen. Denn welche Werkzeuge man anwendet – ob man sich dem close reading verschreibt oder gesellschaftliche Fragen zu beantworten sucht, ob man sich bei der feministischen Filmwissenschaft oder bei den queer studies bedient, sich psychoanalytisch inspirieren lässt oder sein Reservoir subkulturellen Wissens ausschöpft –, ist nicht kategorisch, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden. Löst man sich dann noch vom Themendiktat der aktuellen Filmstarts, kann es aufregend werden.

Für mich ist das Aufregende am ehesten im Autorenkino und im künstlerisch-experimentellen Film zu finden, dort, wo ich mich mit Regisseuren wie den bereits erwähnten befasse, mit Lav Diaz, Apichatpong Weerasethakul, Jonathan Caouette, Pedro Costa, João Cesar Monteiro und anderen. Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das mich gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnete, sondern weil das Kino für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Ins Kino zu gehen und Unvertrautes zu sehen, gehört für mich untrennbar zusammen. Auf der Leinwand vergrößert sich die Welt, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten. Mag die Verwandtschaft von Kino und Reisen ein wenig überstrapaziert sein, mag man sich, sobald man sie anführt, in den zu großen Fußspuren Serge Daneys bewegen, wirksam und aufschlussreich ist diese Analogie dennoch, insofern beides, das Kino wie die Reise, Unvorhergesehenes mit sich bringt, insofern beides überfordert, die Sinne anregt und anstrengt, vielleicht überanstrengt, aber zugleich Neugier entfacht, das Denken und die Wahrnehmung herausfordert.

Ich habe so vieles im Kino zu sehen und zu verstehen gelernt; Dinge, die ich um keinen Preis missen möchte, weil sie zu meiner éducation sentimentale wie zur Schulung meiner Wahrnehmung beitrugen: wie der Schimmel in Georges Franjus „Le sang des bêtes“ in die Knie geht, nachdem der Schlachter ihm die Kugel verpasst hat; wie in Jean Rouchs „Les maîtres fous“ die westafrikanischen Wanderarbeiter sich versammeln, um in der Trance, im religiösen Ritual mit den Erfahrungen von Kolonisierung und Modernisierung umzugehen; wie in Chantal Akermans „De l’autre côté“ die mexikanischen Flüchtlinge als weiße Schemen über die Grenze in die USA ziehen; wie die Bäuerinnen in Lav Diaz’ „Evolution of a Filipino Family“ die Büffel in endlosen Plansequenzen durch das Bild treiben; wie Volker Spengler in der Rolle der transsexuellen Elvira in Rainer Werner Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ durch Frankfurt irrt; wie der Tiger in Apichatpong Weerasethakuls „Tropical Malady“ von der Leinwand hinunterblickt; wie … Die Liste könnte ewig so weitergehen. Und statt sich all diesem Reichtum anheim zu geben, wollen alle immer nur „Star Wars“? Ich glaube es nicht.

In den USA, klagt die Kritikerin und Kuratorin B. Ruby Rich, fristen ausländische Filme ein Schattendasein. Die große Mehrheit der US-Amerikaner guckt sie nicht. Den Grund dafür sieht Rich weniger in der Faulheit, Untertitel und Bild gleichzeitig zu verfolgen, sondern in einer verhängnisvollen Einsprachigkeit: Diese „schafft eine monokulturelle Welt – eine Welt, in der unsere Werte nicht nur vorherrschen, sondern von allen geteilt und von niemandem angezweifelt werden. Es ist ein Kinderbild der Welt, ein Bild, in dem das Selbst vom Anderen unberührt bleibt und nichts von ihm erfährt, sich dessen Existenz gar nicht bewusst ist, sich dessen Bedürfnissen gegenüber verhärtet und sich behaglich in einem Kokon einnistet, der früher einmal Ethnozentrismus hieß und den ich heute, indem ich einen Begriff aus der queer theory borge, um ihn zu überwinden, imperiale Normativität nennen möchte.“ Wer seine Weltanschauung nie mit etwas konfrontiert, was außerhalb davon liegt, kapselt sich ein; wer seine Wahrnehmung nie mit der Wahrnehmung eines Gegenübers abgleicht, regrediert. Was bleibt, ist das narzisstische Vergnügen, sich nichts Neuem auszusetzen.

Filmkritik kann sich diesem Narzissmus in den Weg stellen. Sie hilft zu sehen, was man ohne das Kino nicht wahrnähme – sei es der schlecht ausgeleuchtete schwule Sex auf Andy Warhols „Couch“, seien es die Schemen in den Wäldern Apichatpong Weerasethakuls, sei es Georges Franjus Schlachthof am Rande von Paris oder seien es James Bennings minutenlange Aufnahmen von Wasser, Wellen und Wolken. Wenn Filmkritik hilft, den Blick hierfür zu schärfen, hat sie schon eine Menge geleistet.