Bekenntnisse eines Schreibtischtäters

DOKUDRAMA Anhand der Tondokumente eines tagelangen Interviews mit dem NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann hat Raymond Ley „Eichmanns Ende“ rekonstruiert – formal puristisch, inhaltlich facettenreich (So., 21.45 Uhr, ARD)

1950 geht Adolf Eichmann nach Argentinien. Vorher lebte er als Hühnerzüchter in Niedersachsen.

1957 macht der jüdische Emigrant Lothar Hermann den Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer auf Eichmanns Aufenthaltsort aufmerksam. Der verständigt Felix Shinnar, Chef der Ständigen Vertretung Israels in Köln.

1959 bekommt Eichmann einen Job bei Mercedes Benz Argentina. Bauer reist nach Israel, um die Fahndung zu beschleunigen.

1960 endet die Zeit des Massenmörders in Argentinien. Am 11. Mai nimmt ihn der Mossad gefangen. Es gelingt, Eichmann nach Israel zu bringen, wo zwei Jahre später sein Todesurteil vollstreckt wird.

VON RENÉ MARTENS

Eigentlich sei er ja „Stalinist“, sagt der NDR-Geschichtsredakteur Alexander von Sallwitz launig, und sofort merkt man, dass ARD-Chefredakteur Thomas Baumann und NDR-Kulturchefin Patricia Schlesinger, die bei dieser Pressekonferenz neben ihm sitzen, die Flapsigkeit korrigieren möchten: Mein Gott, Stalinist! Könnten das nicht ein paar Journalisten in den falschen Hals kriegen?

Stalinist ist von Sallwitz tatsächlich nur in seiner Haltung zu Dokudramen. Er ist ein Anhänger puristischer Dokumentationen, Reenactment ist nicht sein Ding. Von Raymond Leys Film „Eichmanns Ende“, den der Kollege Baumann „als vielleicht das Fernseh-Highlight 2010“ anpreist, ist aber auch der Hardliner restlos überzeugt: Es sei „das authentischste, dokumentarischste Dokudrama bisher“, sagt von Sallwitz.

Es ist bezeichnend, dass Dokudramen immer noch Grundsatzdiskussionen auslösen. Zum einen, weil es diese Mischformen zwischen Dokumentationen und fiktionalen Szenen bereits seit rund 20 Jahren gibt, Vorformen nicht mitgerechnet. Zum anderen, weil keine Gattung in der Kultur- und Medienwelt per se schlecht oder gut ist.

Lebendiger Grusel

Um es vorwegzunehmen: „Eichmanns Ende“ gehört zu den herausragenden Produktionen in diesem mittlerweile recht vielfältigen Genre. Im Zentrum des Films steht die Rekonstruktion eines Interviews, das Willem Sassen, ein nationalsozialistischer Journalist aus den Niederlanden, in Buenos Aires mit jenem NS-Verbrecher führte, der federführend die Transporte in die Vernichtungslager organisierte. Herbert Knaup als Adolf Eichmann und Ulrich Tukur als Sassen verstehen es dabei, den fürchterlichen Bürokraten und den ähnlich abstoßenden Lebemann auf gruselige Weise zu verlebendigen. Raymond Ley ließ die Dialoge geradezu puristisch umsetzen: Jedes „aber“, jedes „äh“ aus den Originaldokumenten sei in den Filmdialogen berücksichtigt worden, betont NDR-Redakteurin Schlesinger.

Die sich über rund 50 Sitzungen erstreckenden Gespräche fanden vor einem kleinen Publikum von Gesinnungsgenossen statt. Eichmann war dazu bereit gewesen, weil er von der Vorstellung besessen war, seine Rolle im Dritten Reich sei bis dato nicht angemessen „gewürdigt“ worden. Selbstkritik übt er auf die perfidest denkbare Weise: „Wir haben unsere Arbeit nicht richtig getan, da wäre mehr drin gewesen.“ So abstoßend Eichmanns Menschenfeindlichkeit wirkt: Der Massenmörder hat gegenüber Sassen und vor dem Publikum wie in einer Rolle agiert, sagt Herbert Knaup, „in Wahrheit war er noch schlimmer“.

Viele Aussagen Eichmanns verstörten Sassen und die alten Kameraden, hatten sie doch geglaubt, ihr Gast würde ihnen helfen, ihre „Wahrheit“ zu untermauern: den Holocaust als „undeutsch“ und die Opferzahlen als weit überhöht darzustellen.

„Liebe, Verrat, Tod“ lautet der Untertitel von Leys Dokudrama – und das hat folgenden Hintergrund: Dass der Mossad Adolf Eichmann, den Hauptorganisator der Schoah, 1960 in Buenos Aires gefangen nehmen konnte, hat mit einer Liebesgeschichte zu tun. Lothar Hermann, ein fast erblindeter jüdischer Rechtsanwalt, der nach Argentinien emigriert war, entdeckte den Holocaust-Organisator, weil sich seine Tochter Silvia in Eichmanns Sohn Klaus verliebt hatte.

Den sloganartigen Untertitel – einer, der an der Produktion beteiligt war, bezeichnet ihn als „völligen Blödsinn“ – dürfte die ARD eher aus PR-Gründen gewählt haben. Zum Film jedenfalls passt er nicht, denn der verzichtet auf melodramatische Anreicherungen. Die Beziehung zwischen Silvia Hermann (Henriette Confurius) und Klaus Eichmann (Johannes Klaußner) wird eher zurückhaltend inszeniert. Dieser Handlungsstrang steht in einem angemessenen Verhältnis zu den Auftritten zahlreicher Zeitzeugen. Ley hat in Buenos Aires beispielsweise mit einer engen Freundin der Familie Hermann gesprochen, darüber hinaus mit der Soziologin Saskia Sassen („Das Paradox des Nationalen“), der Tochter des Eichmann-Interviewers.

Undurchsichtiger Gast

Als Kind begegnete sie dem NS-Verbrecher ständig, weil die Gespräche in der Villa der Sassens stattfanden. „He was opaque“, sagt sie. Undurchsichtig also. Das gediegene, bildungsbürgerliche Ambiente, in dem Ley das Interview mit seinen Schauspielern inszeniert hat, beruht auf Saskia Sassens Schilderungen.

Der Filmemacher hätte natürlich gern auch Klaus Eichmann interviewt, dessen Freundschaft zu Silvia Hermann einst seinem Vater zum Verhängnis wurde. Den Tätersohn hat der Regisseur an dessen Wohnort am Bodensee aufgesucht. „Ich hatte eine Begegnung mit Herrn Eichmann am Küchenfenster, aber er hat das Gespräch nach 20 Minuten abgebrochen“ – nachdem er kurz zuvor über ein altes Foto, das Ley mitgebracht hatte, ins Plaudern geraten war. Hermann, die heute in den USA lebt – dorthin war sie gegangen, nachdem sie ihrem Vater bei seinen Recherchen geholfen hatte –, schwieg ganz. „Sie war entsetzt darüber, dass wir sie gefunden haben“, sagt der Regisseur.

Ley gebührt das Verdienst, dass er das dramaturgische Potenzial dieses Interviewmarathons erkannt hat. Das Transkript – zirka 800 Seiten davon befinden sich seit den 1970er Jahren im Bundesarchiv Koblenz – sei „schwer zu lesen“, sagt die Hamburger Historikerin Bettina Stangneth. Deshalb hätten sogar Historiker Eichmann oft falsche Zitate zugeschrieben. „Es gibt keine Sprecherkennung, teilweise fehlen die Absätze“, erläutert die Fachberaterin der TV-Produktion, von der Anfang 2011 das Buch „Eichmann in Argentinien“ erscheint. Die Zitate zuzuordnen, fällt auch deshalb nicht leicht, „weil sich die Herrschaften oft seitenlang aus Büchern oder Presseartikeln vorgelesen haben, ohne dass das aus der Abschrift allein hervorgeht. Es herrschte Tagungsatmosphäre, sogar Referate wurden verteilt.“ Stangneth selbst sagt, sie habe das Material fünfmal gelesen und immer wieder etwas Neues entdeckt.

Herbert Knaup und Ulrich Tukur erwecken Eichmann und den ähnlich abstoßenden Sassen auf gruselige Weise zum Leben. Jedes „aber“, jedes „äh“ sei in den Dialogen berücksichtigt worden, betont der NDR

Die Figur Willem Sassen ist auch mit Blick auf die Nachkriegsgeschichte bundesdeutscher Medien interessant: Der Stern ist vor der Ausstrahlung in eine bemerkenswerte Offensive gegangen und hat Ende Juni offenbart, dass der Nationalsozialist Sassen „haarsträubende“ Texte für die Illustrierte verfasst habe. Unter dem Namen Willem S. von Elsloo stand er 1959 sogar im Impressum – als Südamerika-Korrespondent.

Dass man in Hamburg nicht wusste, wes Geistes Kind der Herr Kollege war, ist auszuschließen. Stern-Gründer Henri Nannen und Sassen „müssen sich gekannt haben“, sagt Stangneth. Der SS-Standarte Kurt Eggers, für die beide als Kriegsberichterstatter tätig waren, hätten beispielsweise 1943 nur rund 140 Mitglieder angehört. Im Juli 1960, rund zwei Monate nach Eichmanns Ankunft in Tel Aviv, begann im Stern eine vierteilige Serie über Eichmann in Argentinien.

Sassen dürfte unter den seriösen Blättern in Deutschland noch andere Auftraggeber gehabt haben als den Stern, schließlich, so Bettina Stangneth, „verkehrte er in der obersten Klasse in Buenos Aires“ und hatte „glänzende Kontakte“ zu Argentiniens Machthaber Juan Péron sowie dessen paraguayischen Diktatorenkollegen Alfredo Stroessner, doch an einer detaillierten Aufklärungsarbeit sind längst nicht alle Medienhäuser interessiert.

Aufwändige Recherche

Als Nannen Sassens Serie ankaufte, „war er allein an der Sensation interessiert, er nahm einfach die exklusiven Informationen, für die sich sogar die Geheimdienste wie CIA und BND brennend interessierten“, sagt Stangneth. Diese Serie sei bis heute „unverzichtbar“, wenn man sich mit dem Thema beschäftige.

Während diese Artikel für Interessierte leicht zugänglich sind, ist die Recherche in dieser Angelegenheit ansonsten extrem aufwändig. Das Material zum Themenkomplex Eichmann in Argentinien müsse man sich „aus vier, fünf Archiven zusammensuchen“, sagt Stangneth. Zusammenhängende Seiten lägen 200 Kilometer auseinander. „So kostet es einfach zu viel Zeit, das Puzzle des Grauens erst einmal zusammenzusetzen, bevor man es ordentlich studieren kann. Wir brauchen mehr Geld für Archivmitarbeiter, damit all das Material, das in unseren Archiven schlummert, angemessen aufgearbeitet werden kann. Derzeit liegen Anfragen beim Bundesarchiv in Berlin meist Monate, ehe sie beantwortet werden können. Das ist doch ein unhaltbarer Zustand.“