Der Unnachgiebige

AUS BERLIN UND BREMENULRIKE WINKELMANN

Peter Schönhöfer hat gerade die jüngste Ausgabe des arznei telegramms fertig gestellt und ist sichtlich bester Laune. Er trägt eine Weste mit vielen Taschen über dem karierten Hemd, das sich über dem kugeligen Bauch spannt. Der gestutzte Vollbart ist schon Jahrzehnte grau, inzwischen strahlend weiß, die Haare ebenso, nur schütterer.

Mit siebzig Jahren ist Schönhöfer zwar längst vom Klinikum Bremen-Mitte nach Hause geschickt worden, wo er von 1985 bis 2000 das Institut für Klinische Pharmakologie aufgebaut und geleitet hat. Aber er ist noch lange nicht im Ruhestand. Der Feind ruft. Es sind zu viele zu schlechte, zu teure, zu gefährliche Pillen auf dem Markt.

Wer Schönhöfer beim arznei telegramm, einer Zentrale der Pharmakritik in Deutschland, besuchen will, läuft erst einmal an Gräbern vorbei. Schönhöfer und die Herausgeber der werbe- und schmucklosen Pillenzeitung sitzen in einem sanierten Wasserturm von 1919 mitten auf dem Friedhof Steglitz, südwestliches Berlin. Wer will, nimmt die Einsamkeit des backsteinernen Turms und die mahnende Beschaulichkeit des Friedhofs als Zeichen für die Unabhängigkeit des Blatts und seiner Macher. Aber besser nicht als Zeichen für ihre Abgeschiedenheit. Das arznei telegramm wird von Ärzten, manchen Apothekern, vielen Wissenschaftlern gelesen. Durch die schmalen Kanäle zwischen Fach- und breiter Öffentlichkeit rinnt manche Warnung auch in die Tagespresse. Spätestens dort wird sie für die Industrie sehr gefährlich. Die Auseinandersetzung mit der Pharmaindustrie beschreibt Schönhöfer so: „Die betreiben Masseneinsatz. Es ist Trommelfeuer beim Scheibenschießen. Eines Tages bewegt man sich zu langsam. Dann braucht man Menschen mit breitem Rücken, die was abfangen.“

Schönhöfer hat auch schon einiges ein- und abgefangen, wurde aber niemals niedergestreckt. Er ist entsprechend selbstbewusst. Auf die Frage, warum sich schon so lange nur so wenige Menschen mit diesem gewissen breiten Rücken finden, sagt er: „Es verfügt nicht jeder über die notwendige Konfliktbereitschaft.“

Auf niemandes Abtreten wartet die Arzneimittelbranche so dringend wie auf das Schönhöfers. Der nutzt von jeher alle verfügbaren wissenschaftlichen und öffentlichen Bühnen – jüngst etwa Transparency International –, um seine Botschaft zu verbreiten: Medikamente sind nicht gut, nur weil sie neu sind. Erst einmal sind sie unsicher, weil nicht erprobt. Die Pharmaindustrie entwickelt keine Medikamente, um Kranken zu helfen. Sondern sie sucht und schafft Märkte für hochpreisige Produkte. Das ist etwas anderes.

So ganz allgemein mag sich das jeder vorstellen. Aber nur sehr, sehr wenige Menschen können das auch beweisen. Denn die Medizinindustrie stellt mit ihren Produkten auch die dazugehörigen Studien her, denen zufolge die neue Pille natürlich unverzichtbar ist. Um sich diesem Informations- und Interessenfluss entgegenstellen, muss man es selbst besser wissen.

Einer mit Witterung

Schönhöfer, sagt ein konkurrierender Experte der Branche, ist eine „seltene Verbindung von enormer Kompetenz, Erfahrung und Furchtlosigkeit“. Der weltweite Arzneimittelkonsum liefere einen „Strom von Signalen“. Irgendwo darin schwimmen zwei oder mehr Meldungen über rätselhafte Nebenwirkungen – eine Studie hier, eine Patientenbefragung dort. Doch um die Verbindung einzuschätzen, die Fälle zu analysieren: Dieses Mittel ist vermutlich schädlich, tödlich gar – dazu brauche es eine „unvergleichliche Spürnase“, sagt der Arzneimittelkenner.

Schönhöfer hat zum Beispiel vor den Cox-2-Hemmern gewarnt, aufwändigen Rheumaschmerzmitteln, als noch lange nicht bekannt war, dass Vioxx und wahrscheinlich auch verwandte Produkte tausende Menschen umgebracht haben. Der Hersteller Merck hat in seinen Studien sogar Tote unterschlagen, damit Vioxx überhaupt zugelassen wurde.

Schönhöfer bleibt aber nicht bei einzelnen Arzneien stehen. Bei jedem Pharmaskandal erklärt er auch noch dem letzten Fernsehreporter, der jüngsten Pressepraktikantin: Die Pharmabranche gibt mehr Geld für Marketing als für Forschung aus – und produziert nurmehr minimale Variationen der bestverkäuflichen „Blockbuster“. Die Ärzteschaft wird von den wohl über 18.000 Pharmareferenten der Republik beschwatzt und teils auch bestochen. Hochschulmediziner lassen sich für vorteilhafte Vorträge bezahlen – „Mietmäuler“, sagt Schönhöfer. Keine guten Worte hat er für aktuelle Gesundheitspolitik und die SPD-Ministerin Ulla Schmidt. Die Eckpunkte zur Reform? „Ein Kotau vor der Industrie“, sagt er: „In einem Satz steht etwas Vernünftiges, im zweiten Satz heben sie es wieder auf.“ Schmidt sei maßgeblich dafür verantwortlich: „Die Frau ist falsch.“ Ulla Schmidt „hat ihre Inhalte ad libitum gedreht. Der Machterhalt ist ihre Schlüsselverhaltensweise.“

Dabei ist Schönhöfer keiner, der von Macht nichts verstünde. Nach Medizin- und Chemiestudium und Doktortitel ging er selbst in die Politik. Weil sie die „Alternative zur Adenauerzeit“ war, trat Schönhöfer 1963 der SPD bei. Er wurde Lokalpolitiker in seiner Heimatstadt Wuppertal, Johannes Rau war SPD-Fraktionsvorsitzender im Rathaus. Kommunalpolitik, sagt Schönhöfer, war kein Klein-Klein um klappernde Kanaldeckel. Mit Leuten wie Rau war sie etwas Größeres.

Als 30-Jähriger entschied Schönhöfer sich trotzdem – „gemeinsam mit meiner Frau“ – gegen eine Kandidatur für den Landtag von Nordrhein-Westfalen: „So überzeugend ist die Politik nicht.“ Keine falsche Bescheidenheit: „Ich hätte auch in der Politik Karriere gemacht. Ich war bereit, dafür zu kämpfen.“ Sein nun geschultes Talent, schwierige Sachverhalte auf einen polemischen Punkt zu bringen, behielt er ja. Er forschte zwei Jahre an den National Institutes of Health bei Washington, habilitierte in Bonn, ging 1979 zum Bundesgesundheitsamt in Berlin. Hier schuf er sich seinen Ruf als „roter Arzneimittelkommissar“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Republik endlich die Konsequenz aus ihrem größten Arzneimittelskandal gezogen: Contergan. Tausende schwer behinderte Kinder waren zwischen 1958 und 1961 geboren worden, nachdem ihre Mütter in der Schwangerschaft das Beruhigungsmittel von Grünenthal genommen hatten. Alle wussten es nun: Die Pillen sind nicht sicher – und niemand prüft sie. 1978 trat das Arzneimittelgesetz in Kraft, wonach erstmals überhaupt Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln nachgewiesen werden mussten. Das war, sagt Schönhöfer, „ein enormer Eingriff.“

Abwehrkampf der Branche

Endlos schien der Kampf für das Arzneimittelgesetz. Immer neue Politiker wurden beschworen, vom Nutzen ihres Einsatzes überzeugt, gegen die Fürsprecher der Industrie in Ministerien und Parlament in Stellung gebracht. So wurde eine ganze Gruppe von politiknahen, kritischen Pharmakologen geformt. Sie haben für ihren Einfluss auch einen gewissen Preis gezahlt.

Denn die deutsche Pharmabranche, damals weltweit führend, war Widerspruch nicht gewohnt. Teure Gerichtsprozesse sollten Widersacher kaltstellen. Bis heute hat Schönhöfer davon keinen verloren. Hinzu kam seither das im Gesundheitssektor beliebte Instrumentarium, die private und wirtschaftliche Existenz von Gegnern zu bedrohen: Anonyme Steueranzeigen, Dokumentendiebstahl, Überwachung durch Privatdetektive – ist der Gegner erpressbar? Nichts von alldem ist natürlich je irgendwem nachzuweisen.

Selbst Schönhöfers Tochter folgten die Detektive in den 80er-Jahren zur Schule. Als zwischenzeitlicher Bremer Gesundheits-Senatsdirektor sorgte er jedoch über politische Kanäle dafür, dass seine Familie in Ruhe gelassen wurde. „Bremen ist eine kleine Stadt“, sagt er und zwinkert.

Bei Schönhöfer zu Hause in Bremen liegt der Kater auf dem besten Sessel am Fenster, und draußen vor der Terrasse versuchen die Enten schon wieder, den Molchteich zu erobern. Nichts da. „Enten haben hier nichts zu suchen!“, teilt Schönhöfer ihnen mit, kommt etwas atemlos wieder herein und wirft sich im schmal geschnittenen Wohnzimmer in die Sitzgruppe – skandinavischer 70er-Jahre-Teak-Schick, verteilt im Raum kleine Kunstwerke der Tochter, die heute Psychologin ist.

Nie hat Schönhöfer einen Lehrstuhl bekommen, nachdem sein Chef Karl Überla ihn aus dem Bundesgesundheitsamt gedrängt hatte. Überla, Leiter des Amtes, nutzte 1982 die Gunst der Stunde nach dem Wechsel von der sozial-liberalen zur schwarzgelben Koalition. An Überla, sagt Schönhöfer „habe ich zum ersten Mal erlebt, was Korruption in einer Behörde bedeutet.“

Bereit zum Konflikt

Überla hat jahrzehntelang für die Pharma- wie für der Tabakindustrie genehme Meinungen vertreten – bis heute hält der ebenfalls 70-Jährige Vorträge zur überschätzten Gefahr des Passivrauchens. In seine Ära fiel auch der Bluterskandal: Das Bundesgesundheitsamt versagte in den 80er-Jahren grotesk darin, Bluter vor HIV- und Hepatitis-infizierten Blutkonserven zu schützen. Letztlich führte dieses Desaster zur Auflösung des Amts 1994. Auch die Nachfolgebehörden, sagt Schönhöfer, haben nie wieder – schon wieder dieses Wort – die „Konfliktbereitschaft“ des Vor-Überla-Gesundheitsamts bewiesen. Der Staat blieb gegenüber der Industrie zahnlos.

Überla ist nur der erste der vielen Namen auf Schönhöfers langer Liste von Personen, die das Gesundheitswesen korrumpieren. Seine Gegner haben ein Gesicht, er kennt sie, er führt keinen abstrakten Kampf gegen ein anonymes System, seine Anklage ist so konkret wie moralisch. Viele renommierte Arzneimittelkenner sagen über Schönhöfer so etwas wie „er überzeichnet“. Oder auch: „Er explodiert manchmal etwas gezielt.“ Dieselben Leute sagen aber auch: Er hat Recht – wenn auch etwas lauter als wir. „Im Umgang mit der Pharmaindustrie verliert der Mensch jegliche Blauäugigkeit“, heißt es dann. Oder: „Stellt man sich gegen ein bestimmtes Produkt, wird man umgebracht“ – wissenschaftlich.

Inzwischen ist die Industrie nicht mehr ganz so klagefreudig wie früher. Möglicherweise hat sie das nicht mehr nötig. Es gibt an den Universitäten praktisch keine unabhängige Forschung mehr. Ist ein Pillenkritiker dennoch zu Titel und Einfluss gelangt, fährt ein Apparat an „Gegenexperten“ auf, seinen Ruf zu schädigen. Ohne dass es eine offene wissenschaftliche Auseinandersetzung gäbe, behängt ihn dann die Presse mit dem verunsichernden, vernichtenden Adjektiv „umstritten“.

„Abteilung Wadenbeißer“, sagt Schönhöfer geringschätzig. Er ahnt, dass die Bedingungen an den Universitäten heute nicht mehr so sind, dass eine ganze Schulklasse von Pharmakologen wie in den 70er-Jahren losziehen könnte, der Politik ein Gesetz zur Pharmakontrolle abzuringen.

Er selbst ist nicht mehr angreifbar.