Früher am Ball

Die „Bild“-Zeitung ist Fußball, und Fußball in der „Bild“-Zeitung, das ist Alfred Draxler.Aber diese WM ist für ihn so schwer wie keine zuvor

AUS HAMBURG GEORG LÖWISCH

Die Luft in Hamburg ist schwül, die Wolken sehen nach Gewitter aus, aber das Wetter hält. Alfred Draxler kann draußen vor dem kleinen Italiener in Sichtweite des Axel-Springer-Hochhauses sitzen und seine Zigarre schmauchen. Er schwärmt. Er sagt, dass diese WM die Stunde des Boulevards ist, mit ihrem Patriotismus und ihrer Leichtigkeit. „Ich habe Weltmeisterschaften in klassischen Fußballländern erlebt, Spanien, Mexiko, Italien. Das war langweilig gegen das, was hier gerade stattfindet. Das ist die Stunde von Bild. Ganz klar.“

Draxler, der Mann, dessen Stunde hier gerade schlägt, ist der Kopf des Sports von Bild. Er hat es bei dieser Weltmeisterschaft schwer wie nie. Es vollzieht sich ein Riesenereignis und trotzdem sind seit WM-Beginn häufig andere Themen die Aufmacher. Allein sechs Mal hat die Bild die Ehekrise des Schauspielers Ottfried Fischer groß auf die Eins gehoben. Deutschland feiert rund um die Uhr, doch es gab Tage, da fand die Bild-Redaktion trotz WM nichts, was sensationeller gewesen wäre als das Schicksal von Bruno dem Bären.

Über den Fußball-Zirkus, die Gerüchte, die Analysen, haben sich die Menschen schon am Vorabend vor dem Fernseher erregt und bis in die Nacht diskutiert. Damit sie die Bild kaufen, bräuchte es frische Fußball-Geschichten, die Zeitung müsste ordentlich dirigieren, enthüllen, petzen, Anklagen weitertragen und Urteile verkünden. Aber es kommen nur ein paar Wortspielereien. Prinz Peng Podolski, König Knall Klose, solche Sachen. Die große Stunde der Zeitung wirkt wie eine Schrecksekunde, in der Draxler und seine Jungs etwas Unerhörtes beobachten müssen: eine WM ohne Bild.

Man kann die Ursache bei Jürgen Klinsmann suchen. Er kann Bild nicht ausstehen. Draxler hat bis ins WM-Jahr hinein gegen ihn Stimmung gemacht. „Klinsmanns Unverschämtheit“ und „Angst um unsere WM!“, hat er im Frühling über seine Kommentare geschrieben, weil der Trainer nicht ganz von Kalifornien nach Deutschland gezogen ist. Fazit: „Klinsmann hat mit seinem unprofessionellen Verhalten inzwischen für so viel Unruhe gesorgt, dass eine erfolgreiche WM mit ihm als Bundestrainer kaum noch möglich sein dürfte.“ Draxler hat sogar Franz Beckenbauer in den Zeugenstand gerufen: „In der Bundestrainer-Frage hat der Kaiser damit öffentlich und unmissverständlich den Daumen gesenkt.“

Klinsmann grinste sich einen. Jetzt ist er der Held.

Einige Wochen vor der WM hielt Klinsmann bei einem Friedenstreffen mit Springer-Bossen in der Toskana einen Versöhnungsvortrag. Zur WM gewährt der Trainer der Zeitung Interviews, die sich für Draxler, den alten Nachrichtenjäger, allerdings anfühlen müssen wie Folter. Das Aufregendste an diesen Interviews ist, dass Bild mit Klinsi sprechen durfte. „Wir haben ein hochprofessionelles Verhältnis“, sagt Draxler an seinem Tischchen in Hamburg. „Ich war nicht Kritiker von Klinsmann als Bundestrainer generell. Wir haben kritisiert, dass ein deutscher Bundestrainer seinen Wohnort in Kalifornien hat. Da steh ich auch zu. Auch wenn er jetzt Weltmeister würde.“

Man kann die Ursache bei Klinsmann suchen. Aber dass ein Bundestrainer nicht so mitmacht wie Rudi Völler oder Erich Ribbeck oder Beckenbauer, das hat Bild schon bei Berti Vogts erlebt. Verändert haben muss sich noch viel mehr. Weil Bild zu einem großen Teil Fußball ist und der Fußball in der Zeitung zu einem großen Teil Alfred Draxler, kann man die Geschichte von allen dreien vielleicht verstehen, wenn man bei Draxler anfängt.

Draxler, 53 Jahre alt, lange Sportchef der Zeitung, ist jetzt einer von zwei Stellvertretern des Chefredakteurs Kai Diekmann. Seine Karriere begann vor fast 40 Jahren. Ein Junge aus Gelsenkirchen, der Vater Bergmann, sie wohnten die ersten Jahre in einem der einfachen Mietshäuser, die der Bergwerksgesellschaft im Stadtteil Schalke gehörten. Alfred Draxler brannte wie die meisten Jungen im Viertel für den Fußball. Sie jagten auf der Wiese dem Ball nach und hingen am Radio, wenn die Spielberichte liefen. Mit zehn schlängelte Draxler sich zum ersten Mal durch den Zaun der „Glückauf Kampfbahn“ des FC Schalke 04, die Bundesliga war da gerade gegründet worden.

Er selbst rannte zu langsam, um gut zu spielen. Aber er verschlang die Sportseiten der Zeitungen. Von der ersten Zeile oben links bis zum Punkt unten rechts. Jede Seite endete unten rechts mit einem Punkt. Er fragte sich: Der Text muss doch mal zu kurz sein oder auch mal zu lang, dass er auf der nächsten Seite weitergeht? Er ist zur Buerschen Zeitung gelaufen und hat gefragt, warum unten rechts immer Schluss ist. Der Redakteur hat erklärt, wie er die Texte anpasst, und gesagt: „Du scheinst tüchtig zu sein. Kannst du Tabellen ausrechnen?“

Von da an saß Draxler jeden Sonntag in der Redaktion. 20 Mark pro Schicht machten ihn auf einen Schlag zum reichsten Jungen der Klasse. Er telefonierte Ergebnisse aus den unteren Ligen rein, tippte Spielberichte, lernte Fotografieren. Irgendwann schrieb er über die Erste Mannschaft vom FC Schalke, er war einer von wenigen Zeitungsreportern in der Stadt, ab und zu kam noch Heribert Faßbender vom Radio aus Köln ins Stadion.

Wenn sonntags die A-Jugend spielte, saßen Draxler und der Schalke-Präsident auf dem Fotokoffer des Nachwuchsjournalisten. Es gibt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme davon. Man spürt die Nähe, sie sehen aus wie zwei Freunde im Camping-Urlaub. Draxler durfte zu offiziellen Anlässen, obwohl er sein Haar schulterlang trug. Er kannte die Spieler, und alle kannten ihn. „Rolf Rüssmann, Klaus Fischer“, sagt er. „Mit denen bin ich erwachsen geworden.“

Vielleicht hat Draxler deshalb die Begeisterung für Klinsmann unterschätzt. Weil der nicht zur alten deutschen Fußballfamilie gehören will. Vielleicht auch, weil der Bild-Mann auf die Vorherrschaft von Bayern München setzte und Klinsmann diese Vorherrschaft in Frage stellte. Oder eben weil Klinsmann gegen die alte Sitte aufbegehrte, wonach der Trainer bei Bild exklusive Nachrichten gegen wohlwollende Zeilen eintauscht. Informationskorruption, nennt das der Held von 2006 verächtlich.

1978, hat die Bild Draxler abgeworben, da war er erst 25. Er sagt, dass das nicht einfach für ihn war. Draxler ist ein leiser Mensch. Bei manchen vom Boulevard hat man das Gefühl, dass sie dauernd unter Strom stehen vor lauter Nachrichtenfieber. Draxler ist ruhig. Seine braunen Augen schätzen ab. „Ein junger Mann hatte damals Vorurteile gegen das Laute der Zeitung“, sagt er. Das ist fein formuliert. Verglichen mit dem zerstörerischen Ehrgeiz von damals ist die Zeitung heute nur mehr ein bösartiger Dackel.

Aber der Sportteil reizte ihn. Er schrieb plötzlich in der Bundesausgabe über den FC Bayern, wenn der in Gelsenkirchen antrat. „Ich hab gemerkt, wenn man das Gleiche in Bild schreibt, passiert etwas. Viele glaubten auch, man sei wichtiger.“ Je höher die Auflage, desto freundlicher die Menschen.

Es lief. Er hatte Kontakte und konnte rasch einen Draht zu neuen Spielern finden. Das war wichtig. Eng mit den Spielern und Vereinsoberen sein.

Heute ist das noch wichtiger, allerdings nicht mehr so einfach. Die Spieler brauchen keine Bild-Kumpels mehr, um über ihre Kameraden zu schimpfen oder zu erzählen, was wieder im Puff los war. Sie haben Medien- und Lebensberater, und womöglich sind manche Spieler auch klüger.

Aber als Draxler aufgestiegen war, in die Nationalmannschafts-Crew von Bild, war das noch nicht so. 1986 bei der WM in Mexiko wohnten Spieler und Bild-Reporter im selben Hotel. Draxler ist runter zum Frühstück, und da saßen schon Lothar Matthäus und Toni Schumacher. „Wir haben mit denen gelebt. Das hat sich total verändert.“ Er zieht an der Zigarre und überlegt. „Ich kann nicht feststellen, dass Bild mit dieser Umstellung nicht zurecht gekommen ist.“

Zu den Bild-Exklusivmeldungen, die in diesen Tagen über die Nachrichtenticker geschickt werden, gehört, dass sich der evangelische Bischof Wolfgang Huber für einen Fußball-Patrioten hält und dass Maradona bei Hamm-Uentrop mit 120 Stundenkilometern erwischt wurde, obwohl nur 80 erlaubt waren.

Zum WM-Stammtisch, der schon nachmittags bei Netzer und Delling in der ARD beginnt, kann Bild mit solchen Geschichten nichts beitragen. Gut, immerhin, wenn das ZDF dran ist, hat Draxler den Netzer in Bild. Aber dann haben die Leute bereits den Jürgen Klopp geguckt, und all die ausbalancierten Sätzchen der Spieler, die immer sagen, dass es nie, nie, nie auf den Einzelnen ankommt.

„Das Fernsehen prasselt 24 Stunden auf die Leute ein“, sagt Draxler. Er klingt nicht beleidigt, auch nicht kämpferisch. Eher analytisch und fast unausweichlich, ein bisschen wie Netzer. „Als ich Nationalmannschaft gemacht habe, gab es keine Kamera im Trainingslager, es gab keine Fernsehjournalisten. Die gab’s nicht. Das hat sich völlig verändert.“

Wenigstens hat er Beckenbauer. Draxler bekam vor der WM das große Liebes-Interview mit Heidi und Franz. Während der WM verkündete er exklusiv die Hochzeit des Kaisers. Aufmacher, Seite eins. Da hätte Ottfried Fischer Bruno durchs Bordell peitschen können – keine Chance.

Draxler sagt, dass er ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis zu Beckenbauer hat. Sie schmauchen Zigarren, und manchmal fährt der Journalist zum Wohltätigkeitsgolfen nach Bayern. Draxler saß schon mit am Tisch, als Bild-Redakteure den Bild-Kolumnisten Beckenbauer 1984 bequatschten, die Nationalmannschaft zu retten. Schlagzeile: „Franz: bin bereit“. 1990 waren sie beide Teamchefs: Beckenbauer kommandierte die Fußballer, Draxler die Bild-Reporter.

Er lächelt und um die dunklen Augen bilden sich Krähenfüßchen. Er schaut wie ein großer Junge. Draxler liebt Weltmeisterschaften. 1974 hat er zufällig auf der Zugfahrt zum Finale nach München den großen Sepp Herberger getroffen und gleich ein Interview bekommen. 1990 in Italien hat er sich in seine Frau verliebt, die für Bild dolmetschte. Vor jeder WM ist Draxler freudig erregt. „Der Höhepunkt eines jeden Fußballers, Fans, Journalisten“, sagt er. „Weihnachten.“

Er geht gern ins Stadion. Aber Draxler ist inzwischen weit oben in der Bild-Hierarchie, deshalb muss er sich um die Produktion in Hamburg kümmern, um Fußball, aber auch um Otti und den Bären. Er hat sich nicht akkreditiert. „Ich denke, für Bild ist ein Reporter auf der Tribüne wichtiger als ich.“ Jetzt macht er sich selber schon klein wie Klinsmanns Spieler, wenn sie versprechen, sich immer und immer in den Dienst der Mannschaft zu stellen.

Neulich war er doch noch mal bei einem Spiel. Er hat sich mit Beckenbauer im Hubschrauber verabredet, um über Deutschland zu sprechen. Sie landeten in Hamburg. Draxler wollte eigentlich in die Redaktion zurück. Aber Beckenbauer hat zu ihm gesagt: „Komm halt mit rein.“

Der alte Kaiser Franz hat noch einmal den Daumen für ihn gehoben.