Didi, der Teufel

Didi Senft ist ein Spaßvogel, ein Besessener. Manche sagen auch: ein VerrückterZeitungsartikel sind seine Trophäen und Wegemarken – wahrscheinlich auch sein Antrieb

VON ERIK HEIER

Das isst Didi, der Teufel: Fünfzehn Büchsen Fisch, 16 Gläser Spreewaldgurken, 30 Tafeln Schokolade, 20 Büchsen Suppe, vier Büchsen Würstchen, zwölf Büchsen Streichwurst, sechs Toastbrote. Und ein Päckchen Pumpernickel, ein einziges.

Sein VW-Transporter mutet an wie das Lagerkabuff eines sehr spartanischen Tante-Emma-Laden.

In der Not frisst der Teufel Fliegen. So geht jedenfalls ein Sprichwort. Didi Senft kennt sich mit Teufeln aus. Aber er nimmt in der Not dann doch lieber Pumpernickel, „meine eiserne Reserve“, sagt er. „Nach drei Wochen fängt Toastbrot an zu schimmeln.“ Drei Wochen, so lange dauert ab Samstag die Tour de France. So lange muss auch der Proviant reichen.

Didi Senft ist die satanische Ferse des Radsports, sein wohl seltsamster Fan. „Tourteufel“ nennt er sich, oder „El Diablo“. Rot-schwarzes Kostüm, rote Kappe mit schwarzen Hörnern, Dreizack in der Faust, Zauselbart im Antlitz. Das sieht aus wie Rübezahl beim Fasching.

Der Leibhaftige kommt auf jeder Etappe der Tour de France, seit 1993, stets wenige Kilometer vor den Etappenzielen. Er rennt mit seiner Teufelsgabel hinter den Fahrern her, springt neben ihnen hoch, angezogene Knie, wüstes Grölen. „Ick schwebe über den Lenkern.“

Didi Senft, ein Kindskopf auf einem 54 Jahre alten drahtigen Körper. Ein Spaßvogel, ein Besessener. Manche sagen: ein Verrückter. Sein VW-Transporter wird irgendwo am Straßenrand parken, ein rollendes Farbfotoinferno. Vorne rechts am Kotflügel der Tourteufel vor Bjarne Rijs, Jan Ullrich und Marco Pantani. Drei ehemalige Tourgewinner und der Didi. Auf der anderen Seite sieht man dasselbe Foto. Aber wo Senft sein müsste, fängt der Radkasten an. „Ärgerlich“, grummelt Didi. „Mich haben sie beim Lackieren einfach abgeschnitten.“

Der VW ist Didis Speisekammer, Didis Restaurant, Didis Hotel. Eine Pritsche liegt über einem Holzgestell. Das Duschen erledigt er gleich im Kostüm, wann immer am Wegesrand gerade ein Gartenschlauch zur Hand ist; es muss ja sowieso gewaschen werden. Unterwegs kann er fast kein Geld ausgeben, sagt er. Er hat halt keines. Dafür aber wird er abnehmen, drei Kilo mindestens. Leben wie Gott in Frankreich sieht anders aus.

Didi Senft kommt daher wie das Duracell-Häschen aus der Werbung. Das, das am längsten trommelt. Und er trommelt gern. Man kann sich kaum vorstellen, dass er jemals innehalten, jemals rasten würde. Entweder ist er gerade auf dem Sprung zur Tour de France, zum Giro d’Italia, zur Friedensfahrt, zur Bayern-Rundfahrt. Oder er schweißt Fahrräder zusammen. Und die sehen sehr seltsam aus.

Das größte Tandem-Rad: sechs Meter lang. Das längste Fahrrad der Welt: 7,80 Meter lang, 76 Hinterräder und 228 Zahnkränze. Das Fahrrad mit dem kleinsten Vorderrad: zwei Millimeter im Durchmesser. Das größte Kicker-Velo mit 61 Bällen, 30 pro Rad, einer als Sattel. 17 seiner Konstruktionen kamen ins Guinness-Buch.

Senfts Grundstück liegt direkt an der Landstraße in Neu Boston südöstlich von Berlin, das zum brandenburgischen Storkow gehört. Es ist einer dieser Tage dazwischen. Zwischen Ankommen und Losfahren. Zwei Tage zuvor hat Didi Senft noch die WM-Fanmeile am Berliner Brandenburger Tor heimgesucht. In zwei Stunden muss er ans Steuer, nach Köln. Wer spielt denn? „Keine Ahnung. England, glaube ich. Oder?“ Egal.

Fußballweltmeisterschaften nimmt er ausnahmsweise mit. Großereignisse eben. Olympische Spiele auch. In Sydney hat Senft vor sechs Jahren auf einer Parkbank genächtigt. Flugzeuge betritt er grundsätzlich im Teufelskostüm. Das spart Gepäck. Der Check-in dauert dann meist etwas länger. Bei einem Flug von Toronto nach Paris wies ihn das Bordpersonal an, seine Hörner abzulegen. „Weeß nich, wieso. Verstehe keen Französisch.“

Sein Areal in Neu Boston lässt sich schwerlich verfehlen. Wenn man auf der Landstraße vorbeifährt, grüßt Didi von einem Riesenschild herüber. Auf dem Rasen stemmen sich metergewaltige Radgestelle aus Aluminiumrohren dem Himmel entgegen. Der Schiefe Turm von Pisa, der Eiffelturm von Paris. Sein Grundstück misst 4.000 Quadratmeter. Viel Platz für sein kleines Wohnhaus und eine schnörkellose Leichtbauhalle, 750 Quadratmeter Fläche. Vor zwei Jahren hat er darin sein Museum für Fahrradkuriositäten aufgemacht; ein Raum davon reicht für die Werkstatt, in der es einigermaßen wüst aussieht. Pedale, Ketten, Zahnkränze, Sättel. 120 Eigenkreationen mögen es sein, die er ausstellt. „Weeß nich genau, wie viel, keine Zeit zum Zählen.“

Man hat beinahe Mühe, ihm zu folgen, wie er da sein Museum abschreitet. Nicht, weil er so flink liefe. Aber seine Schritte schlagen Haken. Seine Sätze auch. So viele Ideen, so viele Gedanken. „Viel zu kleen, ick brauch noch ne Halle.“ – „Mehr als zehn Fußballräder habe ick gebaut, wollte ne Ausstellung machen, aber hat ja keener Oogen für so wat.“ – „Seit der Euro-Einführung is Weltuntergang, keene Show, keene Stimmung.“ – „Muss gleich packen für Köln, Stullen hab ick schon jemacht.“

Zwischenstopp an einer großen Wand, unzählige Zeitungsausschnitte aus aller Welt bis unters Dach. Senft deutet auf einen spanischen Artikel über Ussama Bin Laden. Der ist aus für ihn unerfindlichen Gründen mit Didis Konterfei illustriert. Frechheit, aber wirklich.

Diese Artikel sind Didi Senfts Trophäen, seine Wegemarken – wahrscheinlich auch sein Antrieb. Er drängt sich nicht zu den Kameras. Die kommen sowieso. Wenn es eines Beweises bedurfte, dass Medienpräsenz nicht automatisch mit Manna vom Medienhimmel gleichzusetzen ist, dann ist er dieser Beweis. Er hat nur einen ständigen Sponsor, und jetzt für die nächsten fünf Frankreich- Touren noch einen. Den großen, den potenten Geldgebern aber scheint er zu kauzig zu sein, und seine kuriosen Gefährte zu wenig Hightech, einfach nicht sexy. Didi zuckt nur die Achseln.

Dabei ist er vor allem in Frankreich ein kleiner großer Star; bei der Tour de France küssen ihn junge Mädchen und alte Männer reihenweise an der Strecke ab. 1993 war das Jahr, in dem „El Diablo“ die Tour enterte. Der italienische Heroe Claudio Chiappucci strampelte gerade den Pyrenäengipfel Col d’Ordino hoch. Plötzlich war der Teufel hinter ihm her. Die Bilder gingen um den Globus. Didi weltweit. Senft kam sich trotzdem etwas blöd vor dabei. Das ist lange her.

Manchmal muss er sich jetzt selbst bremsen im Kameralicht, sich zügeln, „du darfst nicht durchdrehen“. Sollen sie ihn doch einen Verrückten nennen. „Die das sagen, die kennen mich gar nicht“, knurrt er. Die würden ja nur den Teufel sehen, nicht den Tüftler. „Nur wenn ich rausfahre, spiele ich verrückt. Ich bin ein richtiger Verrücktspieler.“

Seine Teufelidee ist mittlerweile 40 Jahre alt. Seinerzeit schon hatten die Reporter bei der Tour de France gesagt: „Jetzt sind sie am Teufelslappen“. Das ist eine Fahne, die die letzten 1.000 Etappenmeter markiert. Damals, sagt Senft, hätte er sich überlegt: „Wenn ich Rentner bin“ – vorher kam man als Normalbürger ohne Ausreiseantrag schwerlich aus der DDR in den Westen –, „fahre ich im Teufelskostüm zum Sechstagerennen und zur Tour de France.“ Darauf muss man erst mal kommen.

Senft war mal ein passabler DDR-Nachwuchsradrennfahrer im Bezirk Frankfurt (Oder), mehrfacher Bezirksmeister sogar. Sein erstes Spaßfahrrad bastelte er mit 24 Jahren zusammen, zum Himmelfahrtstag 1976, ein Vatertagsrad für drei Herren mit integriertem Bierkastenhalter. Didi selbst hat mit 14 zuletzt Alkohol angerührt. Bald ließ er seinen Karosseriebauer-Job sausen und tingelte mit seinen Erfindungen umher. Kein fester Arbeitsplatz, das nannte man in der DDR „asozial“. Senft musste bei den Behörden antreten. Die haben den befremdlichen Kerl manches Mal heftig zusammengefaltet. Diesen Dieter Erich Senft, der irgendwann in den 1980ern beschloss, Didi zu sein.

Doch im Frühjahr 1989 lag dann plötzlich ein Ausweis im Briefkasten. Vom Rat des Bezirks Frankfurt (Oder) im Auftrag des DDR-Ministers für Kultur. Senft durfte sich damit „Vorführer von kuriosen Radmodellen“ nennen: „Die Zulassung ist befristet bis 30. 8. 1991.“ Beinahe eine düstere Prophezeiung. 1991 war Didi Senft so weit, wieder einen normalen Job zu suchen. Vorbei die schönen Auftritte, die Reisen mit Helga Hahnemann und den Puhdys bis ins sozialistische Ausland. Vorbei die Engagements in Betriebsferienlagern, die machten alle dicht.

Vielleicht hat die Tour de France 1993 ihn gerettet. Jetzt kommt seine 14 – Jan Ullrich könnte diesmal gewinnen, findet Didi. Tief im Innern wünscht er sich das. Aber das würde er nie laut sagen. Die anderen Fahrer könnten es ihm übel nehmen. In Didis Heimatort Storkow beginnt seit Mai dieses Jahres der Radweg „Jan-Ullrich-Tour“ – Didi hat dafür mit dessen Manager gesprochen. Ein zweiter Radweg heißt „Teufelstour“. Didis Ehrentour.

Aber er hat nicht viel Zeit zum Radeln, er muss immer wieder los. Jetzt erst mal nach Köln. Er wird seine Teufelskappe aufsetzen, die ganze Fahrt über, wird das marode Getriebe seines VW-Transporters martern, mit einem seiner Riesenräder auf dem Anhänger. Und wenn er im Rückspiegel sieht, dass ihn jemand überholt, wird er sich seine Teufelsgabel zwischen die Zähne klemmen und am Steuer lustig herumhampeln, „Unsinn machen, verrückt spielen“ für ein Foto. Das ist Didi, der Teufel.