Die letzte Seite

COMIC Die Zeitung „Le Monde diplomatique“ druckt jeden Monat einen Comic an prominenter Stelle. Ein Sammelband und eine Ausstellung bieten die Gelegenheit, den zeichnerischen Reichtum gebündelt zu entdecken

Die Berliner Zeichnerin Nadia Budde verwandelt das Gesicht von Meryl Streep in ein Einweckglas

VON JENNI ZYLKA

Coming-of-age-Dramen, die das Leben schreibt: Ein Teenager mit Kiss-Vorliebe malt sich eine Gene-Simmons-Gesichtsmaske auf und will so zum Konzert seiner Lieblingsband gehen. Anstatt sich durch die Hintertür hinauszuschleichen, drängt es ihn, mit dem Make-up seine Mutter zu provozieren. Die macht er dafür verantwortlich, dass der Vater nicht mehr bei ihnen lebt. Er findet seine Mutter fast erstickt auf dem Liegestuhl im Garten. Sie hat nach einem Bienenstich einen allergischen Schock. Anstatt zum Konzert zu gehen, rettet der Pubertist seine Mutter.

Line Hoven, geboren 1977 in Bonn, erzählt diese Geschichte in gerade mal sieben düsteren, atmosphärischen Bildern. „The Kiss of the Bee“ zierte im September 2008 die letzte Seite von Le Monde diplomatique, die Comics viel Platz einräumt. Im Vorwort des dazu soeben erschienenen Sammelbands „In 50 Comics um die Welt“ schlägt die Redaktion den Bogen zurück bis zu den Anfängen der modernen Comic-Strips, die als Zeitungs-Sahnehäubchen irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und traditionell immer noch meist die letzten Seiten der Tageszeitungen zieren.

Im Haus Schwarzenberg, das von jeher ein Faible für außergewöhnliche Zeichnungen hatte, stellt Le Monde diplomatique nun die Comic-Originale aus, die die LeserInnen schon einmal gedruckt in DIN-A3-Format bertrachten konnten. „The Kiss of the Bee“, der sinister-einprägsame Schlüsselerlebniscomic aus der Teenagerwelt, ist dort genauso vertreten wie „Stars und Sternchen“ der Berliner Illustratorin und Zeichnerin Nadia Budde. Darin morpht Budde das Gesicht von Meryl Streep zu einem Einweckglas und erkennt unleugbare Ähnlichkeiten zwischen Johnny Depp und einer Glühbirne, einer Kassiererin und einer Eule oder einem Kissen und einem „älteren Luchs“. Nadia Budde, deren Thema „Tier und Mensch“ sich auch durch ihre wunderbar spaßigen Kinderbücher zieht, steht zusammen mit den anderen der Le-Monde-Samlung für eine neue, freie und umfassende Interpretation von Comic-Möglichkeiten: Lange schon muss man nicht mehr nur sequenzielle Geschichten erzählen, wie Szenen in einem Film angeordnete Bilder bringen, sondern darf auch in einem einzigen, voluminösen Trip alles auf einmal zu sagen versuchen. Das tut zum Beispiel das Elvis Studio, dessen albtraumhafte, durchscheinende Wimmelbilder einen fast genauso lange beschäftigen wie der Rest der Zeitung.

Le Monde wird Comics, dem Format, das sich – im Gegensatz zu anderen von der digitalen Welt stark betroffenen und veränderten Medien – in den letzten Jahre stetig nach vorne weiterentwickelt hat, auch durch Farbdruck gerecht: Die reduzierten, ironischen, sehr grafischen Ohne-Worte-Bilder der finnischen Illustratorin Leena Kisonen wären farblos – wenn das schwarze Augenmännchen keine bunte, sondern eine graue Schuppenperücke übergestülpt bekäme – nur halb so wirkungsvoll.

Wieso gerade in der Comickunst die Zeichnerinnen seit Jahren stark aufholen, mag an dem Frauen nachgetratschten Talent für Dekoratives liegen, gepaart mit einer sehr autarken und von Hierarchien weitgehend unabhängigen Arbeitsweise. Wer Comics zeichnet, muss sich nicht zwangsweise gut verkaufen, und in der nach wie vor männlich dominierten Kunstwelt nehmen Comics eine eigene und eigenwillige Position ein.

Die Le-Monde-diplomatique-Sammlung, deren Kraft und zeichnerische Qualität man auf den großen Tafeln der Ausstellung noch besser als im vergleichsweise kleinen Zeitungsdruck erleben kann, besteht also bei weitem nicht nur aus den klassischen mehrbildrigen Short Stories mit mehr oder minder textlicher Punchline am Ende, sondern bewegt sich auf dem Grad zwischen Comic- und anders gearteter bildender Kunst.

Natürlich sind nicht alle Werke gleich gut und einschlagend, dafür erkennt man in ihnen einen Abwechslungsreichtum und einen Mut zum Formatmix, den man in der literarischen Welt voller Dramen, popliterarischer Ich-Erzählungen und Jahrhundertromane oft vermisst. Vielleicht haben sich Comics zur letzten Bastion für wirklich freie KünstlerInnen entwickelt, die sich an nichts halten müssen. Außer an einen Abgabetermin.

■ „In 50 Comics um die Welt“, Reprodukt Verlag, 29 Euro, www.reprodukt.com Ausstellung noch bis zum 26. 6. in der Galerie neurotitan im Haus Schwarzenberg, Rosenthaler Str. 39, www.neurotitan.de