Glibberige Computer mit Grips

NEURO-CHIP Wissenschaftler rühren Chemiecocktails zusammen, die besser sein sollen als herkömmliche Chips – und einmal so denken sollen wie unser Gehirn

„Dies ist der erste Schritt in Richtung künstliches chemisches Gehirn“

Wichtigstes Teil einer neuen Computergeneration ist eine flüssige Mixtur, die vielleicht einmal ähnlich funktionieren kann wie unser Gehirn. Das Neuneu-Projekt, für das die europäische Future and Emerging Technologies (FET) Proactive Initiative 1,8 Millionen Euro bereitstellt, will die Eigenschaften chemischer Systeme zur Steigerung der Computerleistung nutzen.

„Dies ist der erste Schritt in Richtung künstliches chemisches Gehirn“, erklärte Andrew Adamatzky von der University of the West of England in Bristol. So will das europäische Forschungsprojekt stabile „Zellen“ nutzen, die natürlichen Nervenzellen ähneln.

Im Inneren bestehen diese Zellen aus einer glibberigen Flüssigkeit, die von einer festen Wand umschlossen wird. Berühren zwei Zellen einander, bildet ein Eiweiß einen Tunnel durch die Zellwände. Diesen Tunnel können Moleküle passieren, die ein Signal und damit eine Botschaft von der einen auf die andere Zelle übertragen. Dies ähnelt der Signalübertragung zwischen Nervenzellen, die mittels chemischer Botenstoffe miteinander kommunizieren.

Im einfachsten Fall kann das Innere einer Zelle aus einer Flüssigkeit bestehen, die lediglich drei Chemikalien enthält: Bromat, Malonsäure und Schwefelsäure. Gelangt zusätzliches Bromat in das Zellinnere, löst dies eine chemische Reaktion aus, die durch ein Farbenspiel im Zellinneren erkennbar ist.

Über Wanddurchgänge kann sich das Bromat ausbreiten und verbundene Zellen anregen zu leuchten. Es ist wie bei einem Dominospiel: Ein umstürzender Stein bringt auch die anderen zu Fall. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zum Dominospiel: Nach einer bestimmten Erholungspause kann Bromat eine Zelle wieder dazu bringen zu leuchten. Leuchtsignale können Informationen verschlüsseln, und auf diese Weise ist es möglich, komplizierte Informationsstrukturen zu schaffen.

Wichtigste Kraft eines Flüssigcomputers ist eine bestimmte chemische Reaktion. Entdeckt und erforscht wurde sie von den beiden Russen Boris P. Belousow und Anatol M. Shabotinski und nennt sich seither Belousow-Shabotinski-Reaktion, im Fachjargon auch auch „BZ-Reaktion“ – Shabotinski schreibt sich im Englischen mit Z. Die BZ-Reaktion durchläuft einen sich permanent wiederholenden Zyklus. Irgendetwas – beispielsweise eine bestimmte Substanz oder elektrischer Strom oder Licht – löst in einem Chemikalienmix die erste Reaktion aus, deren Produkte dann die nächste in Gang setzen.

Der Kreislauf schließt sich, wenn wieder die erste Reaktion gestartet wird. Die Reaktionsprodukte haben verschiedene Farben, sodass deutlich sichtbar wird, wie sich die einzelnen chemischen Vorgänge – etwa mal in Rot, mal in Blau – wellenförmig in der Flüssigkeit ausbreiten.

Diesen Vorgang nutzte Adamatzky bereits, um einen Roboter zu bauen, der durch sein Labor rollt und dabei von kaum mehr als einer Schüssel voller Chemikalien gesteuert wird.

Trifft ein Lichtstrahl auf die Chemikalienmixtur, löst dies an einem bestimmten Punkt in der Flüssigkeit eine BZ-Reaktion aus, die sich wellenförmig ausbreitet. Je nach Richtung des Lichteinfalls kommt es zu einem anderen Muster von Wellenbewegungen. Eine Digitalkamera nimmt das Muster der Wellenbewegungen auf und bestimmt hiermit die Richtung des Lichteinfalls. Dies führt dazu, dass der Roboter auf die Lichtquelle zurollt.

Andere Flüssigcomputer finden den kürzesten Weg durch ein Labyrinth. Für einen herkömmlichen Rechner ist das ein größeres Problem, da er erst alle möglichen Wege durch das Labyrinth errechnen muss, um dann die kürzeste Strecke zu ermitteln.

Um dieses Problem schneller zu lösen, bauten Wissenschaftler ein Labyrinth aus Plastikteilen und füllten es mit Chemikalien für eine BZ-Reaktion. Danach setzten sie diese am Anfang des Labyrinths in Gang. Digitalkameras zeichneten die wellenförmige Ausbreitung der Reaktion im Labyrinth auf. An jedem Punkt der Wellenfront wurde gleichzeitig bestimmt, wie schnell die Welle sich ausbreitet oder ob sie auf eine Wand trifft und von ihr umgelenkt wird. So konnten die Forscher rasch feststellen, wie schnell und in welche Richtung sich die BZ-Welle bewegte, und so den kürzesten Weg durch den Irrgarten ermitteln.

An diesem Versuch wird deutlich, was die chemischen Computer den elektronischen voraushaben: Im Labyrinth entstanden in jedem Punkt der Wellenfront zugleich für die Lösung des Problems wichtige Ergebnisse.

Flüssige Rechner arbeiten parallel – wie unser Gehirn. Müssen herkömmliche elektronische Rechner jeden Rechenschritt einen nach dem anderen abarbeiten, können flüssige Rechner gleichzeitig viele Arbeitsschritte vollziehen.

„Jeder Tropfen Flüssigkeit ist ein paralleler, leistungsfähiger und außerdem kostengünstiger Rechner“, erklärte Adamatzky. Damit eignen sich chemische Computer dazu, besonders komplexe Aufgaben zu lösen, für die es in der Informatik bisher keine befriedigenden Lösungsverfahren gibt.

Hauptziel des Neuneu-Projektes ist die Entwicklung chemischer Computer, die für die Praxis geeignet sind. Mithilfe molekularer Techniken will man chemische Computer in lebende Zellen einbringen – zum Beispiel zur Krebstherapie. „Es ist möglich, einen chemischen Computer zu bauen, der Krebszellen erkennt und jedes Mal, wenn er auf eine solche bösartige Zelle trifft, ein Zytostatikum ausstößt“, sagte Klaus-Peter Zauner, Universität Southampton.

Auf lange Sicht hat man noch ehrgeizigere Ziele: Die Forscher wollen chemische Computer konstruieren, die neue molekulare Strukturen erzeugen können. „Größte Herausforderung ist es, mithilfe chemischer Computer neue Materialien zu erzeugen, die wir heute noch nicht produzieren können“, sagte Zauner. CLAUDIA BORCHARD-TUCH