„Mama, ich weiß nicht, was ich da soll“

Moritz und Thomas Neubronner werden von ihren Eltern zuhause unterrichtet. Nicht aus religiösen Gründen und nicht, weil die Eltern von Schule nichts halten. Sondern, weil ihre Söhne nicht hin wollen „und wir uns weigern sie zu zwingen“. Jetzt gibt es Ärger mit den Behörden

Moritz erzählt irgendwann, den Blick auf den Tisch gesenkt, stockend, wie andere Kinder ihn auf dem Schulhof gehänselt und gedemütigt haben. „Hose runter“, wispert er, mehr mag er nicht sagen

aus BremenSusanne Gieffers

Dienstag Vormittag um elf. Moritz beißt in einen Keks mit Schokoguss. Er sitzt zuhause im Garten, Sonne im Nacken, Kissen unterm Po und erklärt kauend: „Wir sind ‘ne soziale Familie. Sozial ist doch das Gegenteil von asozial, oder?“ Noch ein Biss in den Keks, dann ein Blick zum Papa. Der hat gerade erklärt, dass die Bremer Bildungsbehörde „ganz schnell gemerkt hat, dass wir nicht asozial sind“. Dass es den Neubronners nicht egal ist, ob ihre Kinder zur Schule gehen oder nicht, ob sie was lernen oder nicht.

Dagmar und Tilman Neubronner unterrichten ihre Kinder selbst. Deshalb gibt es jetzt Streit mit der Behörde, die die Neubronner-Kinder in der Schule sehen will, und deshalb sitzt der neunjährige Moritz an einem ganz normalen Dienstagvormittag, zur besten Schulzeit, am vormittäglichen Frühstückstisch. Sein Bruder Thomas, sieben, zeichnet derweil Comics. Die Comics – umfangreiche Werke mit bis zu zehn Seiten und Geschichten aus Entenhausen oder Harry-Potter-Land – verkaufen die beiden Brüder an die Oma, Tanten, Freunde. 50 Cent das Stück. Und weil sie dann Rechnungen schreiben und Dateien versenden müssen, lernen sie nebenher Mathe, den Computer, die Tücken eines Vertriebs. Das Schreiben – „was biessher geschaa...“ – läuft nebenher, beim Zeichnen. Spielerisches Lernen. Lernen im Leben. „Die wollen den Echtfall“, so sagt es Tilman Neubronner, der Vater.

Der „Echtfall“ ist aus Sicht der Behörden jedoch die Schule – in Deutschland herrscht Schulpflicht, in Hamburg soll es sogar „Schulzwang“ geben (siehe Kasten). Während es in anderen Ländern nicht selten und vor allem nicht verboten ist, dass Kinder zuhause unterrichtet werden, sind im Pisa-Schlusslicht Deutschland die Eltern solcher „Homeschooler“ immer noch mit Bußgeld oder gar Gefängnis bedroht. Es sei denn, sie leben im Ausland: Da empfiehlt das Auswärtige Amt die Materialien der Deutschen Fernschule zum Zuhause- Unterrichten.

Die Neubronners sind nicht grundsätzlich gegen die Schule eingestellt. Es geht ihnen auch nicht um religiöse Gründe wie vielen anderen Homeschool-Familien in Deutschland, die in der staatlichen Schule ihre christlichen Werte nicht vermittelt oder sogar konterkariert sehen.

Nur: Die Neubronner-Söhne wollten beide nicht hin. „Zu laut“ sei es da gewesen, sagt Moritz, der Ältere, „ich konnt‘ mich da nicht konzentrieren.“ „Die Lehrerin war nicht so nett“, sagt Thomas, der Jüngere, „ich konnt‘ die Sachen auch alle schon, aber das war egal.“ Thomas habe sich mit drei das Lesen selbst beigebracht, sagt seine Mutter. Inzwischen lese er dicke Wälzer in zwei Tagen weg, „aber gleichzeitig ist er auch noch sehr kindlich, ein Spielkind.“ Die Schule habe damit wenig anzufangen gewusst. „Mama, ich weiß nicht, was ich da soll“, habe ihr Kind eines Tages von der Schule kommend gesagt. Was jetzt so locker klingt, muss für die Jungen hart gewesen sein: Beide klagten über Bauchweh, Kopfweh, Alpträume und Herzbeschwerden.

Dagmar und Tilman Neubronner haben auf ihre Kinder gehört. Der Satz, den beide stetig wiederholen, lautet: „Unsere Kinder wollen nicht, und wir weigern uns sie zu zwingen.“ Eure Kinder tun, was ihr wollt, war bisher die Standardantwort von Schule und Behörde. Aber fürs Wollen „muss ich überzeugt sein“, sagt Tilman Neubronner. Das ist er nicht. „Wir müssen uns rechtfertigen, dass wir die Kinder nicht in die Schule schicken“, schimpft er, „aber die Schule braucht überhaupt keine Rechtfertigung für ihre Existenz.“

Bevor die Familie vor eineinhalb Jahren nach Bremen kam, lebte sie im Allgäu. Hier haben die Eltern Neubronner eine Montessori-Schule mitgegründet. Und es war diese von Mama und Papa mitgegründete Schule, in die Moritz nicht mehr gehen wollte. „Da haben wir schon schwer geschluckt“, sagt Dagmar Neubronner. „Mit Engelszungen“ habe sie auf den Sohn eingeredet, erfolglos. „Das war eine bittere Pille.“

Auch ein zweiter Versuch in einer Bremer Grundschule scheiterte. „Ich hab mich nur ein bisschen wohl gefühlt“, sagt Moritz, ein blasses Kerlchen mit wachen Augen und geschliffenem Wortschatz, „ein Viertel.“ Worauf sein Vater antwortet: „Ein Viertel wohlfühlen heißt Dreiviertel nicht wohlfühlen.“

Der Schritt, Moritz zuhause zu unterrichten und dann – zwei Monate nach seiner Einschulung in Bremen – auch Thomas, sei ihnen nicht leicht gefallen, betont die Mutter. „Wir haben nächtelang diskutiert.“ Sie haben sich gefragt, ob ihre Kinder ohne Schule überhaupt so groß werden können, wie sie es für die beiden wünschen. Und sie haben sich gefragt, ob ihre Kinder ganz in Ordnung sind. „Da hat uns sehr geholfen, andere Kinder kennen zu lernen, die nicht zur Schule gehen.“ Erstaunt haben die Neubronners gemerkt, „dass diese Kinder ganz normal, aber oft überdurchschnittlich offen sind.“ Nicht genervt vom Lernen, nicht eingetaucht in einen Mainstream-Schulalltag, in dem ein Kind sich schnell aneignet, dass Lernen Arbeit macht, als anstrengend und damit negativ zu bewerten ist. „Die Homeschool-Kinder sind noch zugänglich, sie antworten, sie sind interessiert.“ Dass ein Kind die Gruppe anderer Mitschüler brauche, „das stimmt einfach nicht“, sagt Vater Neubronner.

Siehe Thomas und Moritz. Die beiden singen im Chor, sind im Sportverein, sie spielen mit den Nachbarskindern, sie haben viel Familie um sich. Auch hier argumentiert der Vater von Moritz und Thomas: „Das Vorurteil, Homeschooler fehlten soziale Kontakte, hieße ja im Umkehrschluss, dass die Schule soziale Integration garantiert. Aber die Schule muss das nicht beweisen.“ Dabei gelingt es ihr oft genug nicht. Moritz erzählt irgendwann, den Blick auf den Tisch gesenkt, stockend, wie andere Kinder ihn auf dem Schulhof gehänselt und gedemütigt haben. „Hose runter“, wispert er, mehr mag er nicht sagen.

Den Heimunterricht hat Mutter Dagmar zu Beginn wie Schulstunden organisiert – immer die Vorgaben des Lehrplans im Blick. Inzwischen sind Leben, Lernen und Spielen eins geworden, „aber wir kennen den Lehrplan und achten darauf, dass die Kinder sich das aneignen“, betont sie. Im Moment seien sie schon drüber raus. „Sie lesen morgens im Bett, ganz von alleine.“ Lesen als Unterrichtsinhalt habe sich damit von selbst erledigt. Auch anderes erschließt sich spielerisch. „Neulich haben sie Wer wird Millionär nachgespielt“, erzählt die Mutter, „Thomas kennt sich jetzt super aus mit den Bundesländern, auch mit Stadtstaaten.“ Dabei braucht ein Siebenjähriger so was noch gar nicht zu wissen. Wenn die Knirpse später nicht in die staatliche Schule zurück möchten, dann können sie wie Schüler privater Schulen in so genannten Externenprüfungen staatlich anerkannte Schulabschlüsse erlangen.

Dagmar und Tilman Neubronner, sie 47, er 52, arbeiten beide zuhause. Sie betreiben einen Verlag. Er ist gelernter Lehrer, sie Biologin und Heilpraktikerin. Nun legen sie sich mit der Bremer Bildungsbehörde an – die ihnen anfangs noch gewogen zu sein schien. Weil Homeschooler in Deutschland auf rechtlich unsicherem Boden stehen, hat das Haus von Bildungssenator Willi Lemke (SPD) den Neubronners geraten, ihre Kinder im Ausland anzumelden – denn Neubronners wollten sich nicht durchwursteln wie manche Homeschool-Familien, die sich mit den Behörden häufig irgendwie arrangieren. Sie wollten ihre Kinder von der Schule abmelden, ganz offiziell. Und haben sie dann bei der weltweit tätigen Clonlara-School für Homeschooler in Irland angemeldet. Mit einem Übersetzungsbüro in Irland wäre es ihnen möglich gewesen, einige Zeit im Ausland zu leben. „Aber wirklich weg wollen wir nicht“, sagt Dagmar Neubronner. Wenn aber der Hauptwohnsitz in Deutschland bleibt, worauf das Einwohnermeldeamt besteht – dann müssen Moritz und Thomas auch hier zur Schule, fand schließlich die Behörde, gab sich „hochentschieden“ und drohte mit Bußgeld.

Inzwischen klingt es wieder versöhnlicher. Man sei in Kontakt mit den Eltern, so ein Sprecher aus dem Hause von Willi Lemke, „und der Kontakt hat gezeigt, dass da möglicherweise Wege zu finden sind.“ Welche, mag er nicht sagen, man verhandle noch. Das Bremer Schulgesetz ermöglicht „in Ausnahmefällen“ eine Befreiung von der Schulpflicht.

Wie die Lösung in Sachen Moritz und Thomas aussehen soll, ist noch offen: Die Neubronners wollen sich nicht auf jede Einigung einlassen. „Wir wollen“, sagt Dagmar Neubronner, „eine Regelung, die auch anderen helfen kann.“