„Wir brauchen die mit der blauen Gitarre“

BRAUCHTUM Sinterklaas, der „Zwarte Piet“ und Postmigranten – ein Gespräch zum Nikolaustag mit Rashid Novaire, dessen Stück „Sag mal, dass wir nicht zu Hause sind“ demnächst im Ballhaus Naunynstraße seine Premiere hat

■ Jahrgang 1979, bewegt sich für seine Romane zwischen verschiedenen Ländern, Zeiten und Gender. Schreiben ist für den niederländischen Autor ein Prozess zwischen Aneignung und Mystifizierung. Mit seiner eigenen Herkunft setzt sich Novaire in der Erzählung „Afkomst“ (2008) auseinander, eine autobiografische Spurensuche, die zu den Touargas in Marokko sowie zu einer Urgroßoma mit Mutterkreuz im Dritten Reich führt. In seinem jüngsten Roman „Hoogmoed“ (Hochmut, 2013) folgt er einer jungen Frau nach Turkmenistan auf der Suche nach den Bedingungen innerer Freiheit.

INTERVIEW ASTRID KAMINSKI

taz: Herr Novaire, in Deutschland schreibt man Gedichte in der Pubertät, in den Niederlanden in der ersten Dezemberwoche zum Fest von Sinterklaas, dem Nikolaus. Sie sind Niederländer.

Rashid Novaire: Ja, in der Sinterklaas-Zeit habe ich immer Gedichte geschrieben. Mehr und mehr Leute behalten die Tradition auch in der Erwachsenenzeit bei für Betriebsfeiern und so weiter. Man bereitet sich gegenseitig Geschenke und schreibt Gedichte dazu, die einen Bezug zwischen Geschenk und Empfänger herstellen. Aber für mich ist es ein Fest der Kindheit.

Wie haben Sie das Fest gefeiert?

Als Fest der Liebe. Die Gedichte waren wichtiger als die Geschenke. Aber die gehörten auch dazu. Und die Schuhe wurden abends am 5. Dezember unter den Kamin gestellt, und es kamen Leckereien hinein.

Und die wurden von Sinterklaas’ Helfer, dem Zwarte Piet, gebracht?

Ja.

Dieser „Schwarzer Peter“ kam dieses Jahr in den Niederlanden mehr denn je in die Kritik. Die Diskussionen darüber waren heftig genug, um bis nach Deutschland zu dringen. Angeblich seien die „Zwarte Pieten“ nur darum schwarz, weil sie durch den Schornstein kommen. Dabei sind die rassistischen Stereotypen in der Ikonografie des Festes überdeutlich. Die Pieten sehen aus wie historische schwarzafrikanische Sklaven. Wie hat das auf Sie gewirkt?

Natürlich handelt es sich um eine rassistische Ikonografie. Aber du schaust die ganze Zeit auf ein Bild, und du bist so daran gewöhnt, dass dir gar nichts daran auffällt. Dieses Bild ist Teil deines Hauses, das Haus ist die Gesellschaft, die Kultur. Mit 13 oder 14 fiel mir dann dennoch auf, dass etwas nicht stimmt. Dabei merkte ich aber auch, dass die Gesellschaft überhaupt nicht bereit war, das mitzureflektieren. Also bekommst du gespiegelt, dass dein Bewusstsein nichts wert ist, dass es fehl am Platz ist. Als ich 15 war, habe ich schwarze Akademiker in meine Schule eingeladen – eine Waldorfschule mit lauter weißen Kindern. Dabei wurde uns erzählt, wofür die Perücken und diese goldenen Ringe der Pieten stehen. Aber einige Mitschüler wollten das nicht hören. Es hat ja auch mit einem Verlust zu tun von Dingen, die man lieb gewonnen hat, und etwas, was gut gemeint ist, kann doch nicht schlecht sein. Dieser Gedanke ist natürlich schlicht, aber die Liebe muss man ernst nehmen, sonst können sich die Positionen nur versteifen, was in diesem Jahr auch passiert ist.

Auslöser der Debatte war der Befund der UN-Kommissionsberaterin Verene Shepherd, dass das Sinterklaas-Fest rassistisch sei und man den Zwarte Piet abschaffen müsse.

Aber sie hat auch einen Fehler gemacht. Sie hat für andere gesprochen und gesagt, sie könne sich ja nicht vorstellen, dass die Schwarzen in diesem Land keinen Anstoß an einem solchen Fest nähmen. Dadurch haben sich auch die, die es eigentlich für emotionalen, therapeutischen Blödsinn finden, darüber zu sprechen, angegriffen gefühlt. Und die Debatte ging von allen Seiten los. Als dann zum Beispiel die Sängerin Anouk, die Kinder von schwarzen Männern hat, intervenierte und es furchtbar fand, dass ein Land nicht in der Lage sei, seine eigene Tradition kritisch zu reflektieren, bekam sie dafür Drohungen wie „Diese Negerschlampe ermorde ich lieber heute als morgen“. Daraufhin hat sie den Leuten, die ihr so was geschrieben haben, ihre Adresse geschickt und zurückgeschrieben, sie mögen doch vorbeikommen, um darüber zu reden. Aber niemand ist vorbeigekommen.

Sie haben ein Jahr in Deutschland gelebt, ich war ein paar Jahre in den Niederlanden. Ich habe den Eindruck, das Nachbarland ist uns mit dem Zwiegespann von integrativer Kulturpolitik und deren Scheitern in Rechtspopulismus oft ein paar Jahre voraus. Die Witze, die etwa Olga Grjasnowa hier über Fremdzuschreibungen in ihrem Romandebüt von 2012 macht, liest man unter anderen bei Ihnen bereits seit Jahren. Und das Ballhaus Naunynstraße, wo jetzt die Bühnenadaption Ihrer autobiografischen Erzählung „Afkomst“ (Herkunft) aufgeführt wird und das den Begriff Postmigranten in Deutschland populär gemacht hat, ist erst seit drei Jahren auf der Szene. Sehen Sie eine Linearität dieser Entwicklungen?

■ „Sag mal, dass wir nicht zu Hause sind“ wird am 11. Dezember im Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt. In dem Stück überlagert Rashid Novaire die autobiographischen Erfahrungen, die seiner Erzählung „Afkomst“ (Herkunft) zugrunde liegen, mit denen der Regisseurin Bêrîvan Kaya: aus den Niederlanden wird so Deutschland, aus Marokko Kurdistan, aus einer Urgroßoma mit Mutterkreuz die Angst um die weiße Wäsche. www.ballhausnaunynstrasse.de

Sie haben auch viel mit einem Momentum zu tun – Reaktionen darauf, wer und welche Gruppierung zu welcher Zeit auf welche Art welche Diskussionen auslöst. Der Gebrauch von „postmigrantisch“ ist eine sehr deutsche Begrifflichkeit geworden. Sie ist gut. Das passt auf mich. Jüngst wurde ich in einem Jubiläumsbuch meines eigenen Verlags als „Migrantenautor der dritten Generation“ bezeichnet. Das ist seltsam. Mein Vater war kein Autor, mein Großvater auch nicht, und ich bin nicht gewandert! Ich habe mich oft nicht so richtig in den Perspektiven wiedergefunden. In der weißen niederländischen Gesellschaft nicht, aber auch nicht in den Einwanderungskomödien, in denen alle Mohammed heißen, Fabrikarbeiter sind, die Frauen Kopftücher tragen und wir über all diese Klischees lachen können. Ich bin gemischt, und über mich gab’s eigentlich nie wirklich was zu lachen.

Darum haben Sie „Afkomst“ geschrieben?

Ich wollte mein eigenes Gesellschaftshaus bauen, in dem ich meine marokkanische, meine deutsche und meine niederländische Geschichte zusammenbringe, und ja, in dem auch ich über meine Situation lachen kann. Aber nicht nur. Es ist auch viel Schmerz dabei: nirgendwo dazuzugehören, nur zur eigenen Sehnsucht. Wie bei der Schwarzen-Peter-Geschichte schaue ich mir das Haus meiner Familiengeschichte dabei als Konstrukt an. Gesellschaft ist eine Konstruktion, Familie ist eine Konstruktion, ein Buch ist eine Konstruktion. Die Frage ist: Wo ist die Schnittstelle, an der ich etwas ändern kann? Im Buch geht dieser Weg durch drei Kapitel: Das Verhör, das Garenlassen, das Verarbeiten. Der Protagonist – Bisexueller, Sohn eines Marokkaners und Enkel einer deutschen Naziurgroßmutter, deren Bruder im Krieg ideologische Morde begangen hat – klingelt in den dreißiger Jahren an einer deutschen Haustür. Es wird gefragt: Wer bist du? Bist du der Feind? Und er sagt: Ich bin deine Familie. Du musst mich umbringen.

Auf der Bühne wird es eine Figur geben, die in Ihrem Buch nicht vorkommt. Der „Mann mit der blauen Gitarre“, eine Figur aus einem Gedicht von Wallace Stevens.

„They said, ‚You have a blue guitar, / You do not play things as they are.‘ // The man replied, ‚Things as they are / Are changed upon the blue guitar‘.“ Wir leben in fucked-up times. Wir brauchen die Leute mit der blauen Gitarre.