Es war einmal am Bahnhof Zoo

Der Bahnhof Zoologischer Garten war lange Berlins heimlicher Hauptbahnhof. Mit der Eröffnung des neuen Lehrter Bahnhofs wird er vom Fernverkehr abgekoppelt. Die Geschichten und Legenden bleiben: von Emil Tischbein bis zu den Taigatrommeln

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Jeden Freitag, so ab 15, 16 Uhr, macht der Bahnhof Zoologischer Garten so richtig auf Nostalgie. Es ist der Tag in der Woche, an dem die Pumpstation für Reisende von und nach Berlin brummt wie zu besten Mauerzeiten. Bei der Anfahrt mit dem Auto zum Hardenbergplatz steht fast jeder Fahrgast erst einmal im Stau. Drinnen im Bahnhof muffelt es verstärkt nach Grillwürstchen, Bratkartoffeln und Fisch. Man drängelt sich, steht in der Schlange am Zeitungsstand, an den Fahrkartenschaltern und Ticketautomaten. Auf den vier Bahnsteigen stapeln sich die Koffer en masse zwischen Pendlern und Touristen. Über 150.000 Menschen sind es manchmal, wenn im Ein-, Zwei- und Dreiminutentakt die Zügen rein- und rausrollen.

Zu den Spitzenwerten hinzu kommen freitags Verhältnisse, die Bahnchef Hartmut Mehdorn zur Vergangenheit erklärt hat. Das Milieu besetzt den Bahnhof und sein Umfeld. Sex, Stricher, Drogensüchtige und Obdachlose mischen sich abends vermehrt unter die Reisenden und Bahnhofsbesucher. Sie treiben ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und dem Aufsichtspersonal, die Mehdorns sauber inszenierte „Einkaufswelt mit Gleisanschluss“ gegen die Nachfahren der „Christiane F.“ verteidigen. Offiziell, so reklamiert die Bahn heute für sich, gibt es dort keine Trebegänger und Geschichten à la „Christiane F. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mehr. Das war 1981 gewesen. Seit Jahren sei die Station clean.

Bahnhöfe sind Orte des Wandels und der Verwandlung, schreibt der Kultursoziologe Wolfgang Schivelbusch in seiner „Geschichte der Eisenbahnreise“. Mobilität statt Beständigkeit beherrscht den Ort, Menschen wechseln von hier aus Zustände, Orte und Räume. Die Zeit wird relativ.

Der 28. Mai 2006 wird für den „Zoo“, wie die Berliner ihn nennen, ein Datum des Wandels; wenn auch nicht der völligen Verwandlung. Weder haben über 100.000 Unterschriften von Charlottenburger Bahnhof-Zoo-Fans gereicht, die Verstümmelung des Bahnverkehrs dort zu stoppen. Noch konnten die Argumente von Seiten des Bezirks und der Grünen, dass nämlich fast 400.000 Menschen im Einzugsgebiet des Bahnhofs Zoo ihre Station verlieren, das Unvermeidliche aufhalten: Mit der Fertigstellung des Tiergartentunnels für die Nord-Süd-Eisenbahntrasse und der Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs am Freitag werden im Bahnhof Zoologischer Garten keine Fernzüge mehr stoppen. Ab dann huschen die weißen ICEs wie Geister ohne Halt durch die altehrwürdige Glashalle. Die Zeit der Fernzüge aus Köln, Frankfurt und München, aus Amsterdam und Wien, Paris oder Brüssel ist Geschichte.

In der Tat exekutiert Mehdorn eine lange Charlottenburger Tradition samt deren Geschichte und Legenden. Über dem heutigen S-Bahn-Viadukt hatte sich der aufstrebende neue Berliner Westen 1884 einen Bahnhof hingestellt, im richtigen Glauben, hier die zukünftigen Verkehrs- und Reiseströme zentral auffangen zu können.

Von Beginn an war der „Zoo“ ein Fernbahnhof in Ost-West-Richtung mit einem Mittelbahnsteig und zwei Gleisen, einer kleinen Halle samt Eisenbahnerhäuschen und mit einem Oberlicht darüber. In Sichtweite zur späteren Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Kurfürstendamm, dem Zentrum des neues Westens, entstand ein Verkehrsknotenpunkt aus Tram, Bus und U-Bahn. Oben, über den historisierenden Bahnbögen, knatterten die Züge und die S-Bahn.

In den 1920er- und 1930er-Jahren hielten dort die modernsten Schnelltriebwagen der damaligen Reichsbahn wie etwa der „Fliegende Kölner“. Vom „Zoo“ aus brauchten Reisende drei Stunden nach Hamburg, ein Rekord. In östlicher Richtung wurden die Friedrichstraße, der Alexanderplatz und der heutige Ostbahnhof angefahren. Berlin besaß mit dieser Trasse und seinen Kopfbahnhöfen – wie beispielsweise dem Anhalter Bahnhof oder dem Potsdamer Bahnhof – ein Eisenbahnverkehrskonzept par excellence.

Zugleich avancierte der Bahnhof Zoologischer Garten schon in seiner ersten kleinen Variante zum Mythos, zum Bild der Großstadtmoderne. Franz Hessel und Walter Benjamin rühmten ihn und sein städtebauliches Umfeld in ihren literarischen Berliner Spaziergängen.

Sein wohl bekanntester Reisender in den 1920er Jahren hingegen hieß Emil Tischbein aus einem Kaff namens Neustadt. Dem kleinen Tischbein aus Erich Kästners Roman „Emil und die Detektive“ hatte ein gewisser Herr Grundeis mit extrem abstehenden Ohren auf der Fahrt nach Berlin das Geld geklaut. Und statt am Bahnhof Friedrichstraße auszusteigen, wo Emils Großmutter und seine Kusine den Provinzler zum Besuch erwarteten, verließ Emil am Zoo den Zug, immer hinter dem Dieb Grundeis her. Der Rest ist Jugendliteraturlegende.

Im Jahr 1934 wurde der Bahnhof Zoologischer Garten umgebaut, dieses Outfit hat er bis dato erhalten. Die Erweiterung zu einem Großstadtbahnhof war ein Projekt der Nazis für die erwarteten Besucherströme zu den Olympischen Spielen 1936. Die Gigantomanie der NS-Architektur durchdrang das Bauvorhaben aber nicht. Vielmehr hielten sich Sachlichkeit und Wuchtigkeit die Waage. Den Sockel hüllten die Planer in Muschelkalkplatten wie beim Olympiastadion, darüber erhob sich in Eisen und Glas die Fernbahnhalle mit schnittigen Profilen. 38 Meter Spannweite hatte die Halle mit zwei Bahnsteigen, 11.000 Tonnen Eisen lasteten auf dem Erdgeschoss mit seinen Wartehallen, Läden, gastronomischen Einrichtungen und Schaltern.

Dass der Bahnhof Zoo zu dem zentralen Ein- und Ausfalltor des westlichen Berlins avancierte, hat er der Zerstörung der Kopfbahnhöfe in Folge des Zweiten Weltkriegs und der Teilung der Stadt ab 1961 zu verdanken.

Weil seine Verwaltung auch nach dem Mauerbau in den Händen der östlichen Reichsbahn verblieb, war der „Zoo“ erst gar nicht geliebt von den Berlinern (West). Dennoch hatten diese keine andere Wahl, die Zug- und S-Bahnstationen am Bahnhof Zoo zu nutzen. Nach und nach wurden auch hier die Kriegsschäden beseitigt, die „Zoo-Terrassen“ erweiterten den Bahnhof in den 1950er-Jahren. Parkplätze entstanden, Läden kamen hinzu.

Alle per Bahn nach Westberlin Reisenden mussten durch diese Schleuse. Es war die Zeit, in der der Bahnhof Zoo die Rolle des heimlichen Hauptbahnhofs spielte. Bis 1989 stampften die so genannten Taigatrommeln – laute, dieselbetriebene Zugmaschinen aus der Sowjetunion – mit den Transitwaggons der „Interzonenzüge“ im Schlepptau in die Halle. Wer in der Frontstadt andocken wollte, der landete wie täglich Tausende hier am „Schaufenster des Westens“: Berlinale-Filmstars, „Christiane F.“, die Ideal-Sängerin Annette Humpe, Lumpi aus „Linie 1“, türkische Migranten, Wehrdienstflüchtige, Großstadtsehnsüchtige und viele mehr.

Auch der schlechte Ruf des Bahnhofs, der sich bis heute erhalten hat, stammt aus jener Zeit: Die düstere Atmosphäre, beißender Geruch, ein Ambiente in schwarzem und vergilbtem Ton und ein Umfeld aus Drogen und Prostitution kratzen nur ein wenig an dem Titel „Hauptbahnhof“ und seiner wesentlichen Funktion für die Stadt.

Wenn ab dem 28. Mai nur noch Regionalzüge am Bahnhof halten und weniger Fahrgäste die Hallen, Treppen und Bahnsteige beleben, ist das für Helga Frisch, Mitbegründerin der Bügerinitiative zum Erhalt der Fernbahnstrecke, ein „unhaltbarer Zustand“. Denn die Fahrgäste aus dem tiefen Berliner Westen müssen dann bis zum neuen Berliner Hauptbahnhof fahren, um in einen ICE steigen zu können. Viele wie Frisch und Charlottenburgs Bürgermeisterin Monika Thiemen (SPD) befürchten, dass durch den abgehängten Zoo die Attraktivität der gesamten City-West leiden wird.

Richtig ist, dass 20.000 bis 40.000 Reisende täglich weniger in und am Bahnhof sein werden – für den wirtschaftlich gebeutelten Berliner Westen ein zusätzliches Manko. Bahnchef Mehdorn ist das gleich. Er will möglichst viel Verkehr und Menschen zum neuen Hauptbahnhof und auf dessen 15.000 Quadratmeter Verkaufsflächen lenken. Heute, lange nach dem Fall der Mauer, seien die Bahnsteige im Bahnhof Zoo zu voll, behauptet Mehdorn. Zusätzlich leide die Sicherheit der Fahrgäste unter der Situation. Und schließlich hole die Bahn drei oder vier Minuten heraus, wenn sie ohne Halt durch den Bahnhof Zoo fahre. Drei bis vier Minuten! Und wie lange braucht man aus Charlottenburg zum Hauptbahnhof?