„Die Harmonie hielt nur 48 Stunden“

Eine Episode der unmittelbaren Nachkriegszeit wird wiederentdeckt: die polnische Besetzung des Emslandes zwischen Mai 1945 und Mai 1947. Ein Gespräch mit dem polnischen Historiker Jan Rydel

INTERVIEW VON KOLJA MENSING

Im taz.mag vom 26. November 2005 berichtete Kolja Mensing unter dem Titel „Solche Sachen waren gewesen“ von seiner Suche nach Lebensspuren seines polnischen Großvaters Józef Kozlik, der 1945 als polnischer Besatzungssoldat ins Emsland gekommen war. Über diese kurze polnisch-deutsche Nachkriegsphase spricht er heute mit Jan Rydel, 47, Historiker an der Jagiellonen-Universität in Krakau.

taz.mag: Herr Rydel, im Mai 1945 haben britische Truppen den Nordwesten Deutschlands besetzt. Kaum jemand allerdings weiß heute noch, dass im Emsland nicht britische, sondern polnische Soldaten stationiert waren. Eine polnische Enklave innerhalb der britischen Besatzungszone. Wie kam es dazu?

Jan Rydel: In London war man zum Kriegsende zutiefst davon überzeugt, dass die Deutschen sich nach der Niederlage nicht einfach in ihr Schicksal fügen würden. Man ging davon aus, dass es zu einer nationalsozialistischen Untergrundbewegung kommen würde, und rechnete mit Partisanenkämpfen und Attentaten. Also wollte man eine möglichst starke Besatzungstruppe.

Gut. Aber warum gerade polnische Soldaten?

Die Polen galten als entschieden antideutsch. Die Überlegung war, dass die Soldaten der Exilarmee aufgrund der eigenen Erfahrungen bzw. der Erfahrungen ihrer Familien während des Zweiten Weltkriegs die Deutschen hassten – und darum eine rigide Besatzungspolitik perfekt umsetzen würden.

Es ging also um eine Fortsetzung psychologischer Kriegführung?

Es gab auch strategische Überlegungen. Winston Churchill befürchtete, dass die Rote Armee weiter nach Mittel- und Westeuropa vordringen würde. Ihm war jedes Mittel recht, um ein entsprechendes Verteidigungspotenzial aufzubauen. In diesen Bereich gehören unter anderem die kuriosen und bis heute nicht ganz geklärten Vorgänge rund um die Entwaffnung und Auflösung der deutschen Wehrmacht. Innerhalb der britischen Besatzungszone schritt sie zunächst nur sehr zögerlich voran. Es könnte also wirklich etwas dran sein an Churchills Idee, im Fall einer sowjetischen Offensive eine „German Army“ zum Einsatz zu bringen – wie auch Verbände der polnischen Exilarmee.

Das klingt widersprüchlich. Man setzt polnische Besatzungstruppen ein, weil man weiß, dass ihre Angehörigen extrem antideutsch eingestellt sind. Und gleichzeitig will man eine polnisch-deutsch-britische Armee gegen die Rote Armee ins Feld schicken?

Das war sicher nicht zu Ende gedacht. In Churchills Umgebung herrschte eine Art Panikstimmung. Im Nachhinein erwiesen sich seine Befürchtungen natürlich als unberechtigt.

Warum wurde ausgerechnet das Emsland polnische Besatzungszone?

Ich kann es nur vermuten. Polnische Truppen spielten eine wichtige Rolle bei der Befreiung Belgiens und der Niederlande und rückten dann nach Deutschland vor. Die 1. Panzerdivision war in den letzten Kriegstagen bis nach Ostfriesland vorgedrungen. Größere Truppenbewegungen wollten die Briten vermeiden, also musste es ein Gebiet in nicht allzu weiter Entfernung sein. Dass es dann das Emsland traf, lag einfach sehr im Interesse der polnischen Exilregierung. Unter anderem gab es dort ein Lager mit polnischen Frauen, die am Warschauer Aufstand teilgenommen hatten und anschließend in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Außerdem war die Gegend überwiegend katholisch. In Haren an der Ems zum Beispiel gab es eine sehr schöne katholische Kirche. Das ist der Ort, der vorübergehend sogar in Maczków umbenannt wurde, nach dem polnischen General Stanisław Maczek.

Wie sah denn die „Besatzung“ konkret aus? In Ihrem Buch erwähnen Sie etwa die „Aussiedlung“ ganzer Dörfer und Kleinstände im Emsland.

Das war eine ganz klare Sache. Die Militärverwaltung erließ den Befehl, dass die umliegenden Gemeinden die Einwohner von Haren und anderen Orten aufnehmen mussten. Etwas anders war die Situation für die deutschen Landwirte. Die Polen haben zwar die Häuser auf den Höfen bekommen, aber nicht die dazugehörigen Felder und Tiere. Also hat man die deutschen Landwirte in der Nähe angesiedelt, damit sie weiter ihre Felder bearbeiten können.

Das hört sich nach Ärger an.

Zu einem ziemlich sonderbaren und wohl auch konfliktbeladenen Experiment kam es in der Ortschaft Völlen. Die deutsche Bevölkerung wurde in den Häusern auf der einen Straßenseite zusammengelegt, während die Polen in die leer geräumten Häuser auf der anderen Straßenseite einzogen. Man konnte sich über die Straße hinweg gegenseitig beobachten. Das muss ziemlich furchtbar gewesen sein.

Die Berichte aus dieser Zeit vermitteln ein eher harmonisches Bild: Angeblich haben die Bewohner von Völlen sogar spontan angeboten, für die polnischen Soldaten zu kochen …

Diese Harmonie hielt etwa 48 Stunden. Auf der deutschen Seite war man natürlich zunächst einmal froh, dass man nicht schlimmer behandelt wurde. Die Konflikte kamen danach. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass die Unterkünfte in den deutschen Häusern vor allem den polnischen Familien zugeteilt wurden. Die ledigen Personen, und sie waren in der Mehrzahl, wurden in Barackenlagern untergebracht.

Sie haben es schon angesprochen: Die Polen galten aufgrund ihrer Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg als sehr deutschenfeindlich. Wie wichtig war das Thema „Rache“ innerhalb der polnischen Besatzungszone?

Wirkliche Rache hätte wohl bedeutet: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dazu ist es nicht gekommen. Es sind einzelne Raubüberfälle und Morde aus dieser Zeit belegt, von polnischen Soldaten, eher allerdings noch von ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern, die jetzt als Displaced Persons im Emsland lebten. Das ist kein Wunder. Unter einer so großen Zahl von Männern, die wirklich schlimme Erlebnisse hinter sich hatten, mussten natürlich auch Kriminelle sein. Wenn Sie Lust haben, vergleichen Sie die Zahlen mit den Angaben aus der amerikanischen Besatzungszone!

Es muss auf polnischer Seite aber doch starke Genugtuung gegeben haben, Besatzer zu sein?

Sicher. Polnische Soldaten haben im Emsland die Deutschen etwa gezwungen, den Bürgersteig zu verlassen, wenn sie ihnen entgegenkamen. Das kenne ich aus der Erzählung meiner Eltern, nur umgekehrt: Während der Besatzungszeit haben die Deutschen das Gleiche von den Polen verlangt.

Was weiß man über Liebschaften zwischen polnischen Soldaten und deutschen Frauen?

Statistische Angaben gibt es darüber nicht. In den Quellen bin ich allerdings immer wieder auf solche Geschichten gestoßen – und das, obwohl es bei der relativ großen Zahl von weiblichen Displaced Persons auch eine Menge polnische Frauen im Emsland gab.

Gab es auch verheiratete Paare?

Nein. Während der Kriegszeit und der Nachkriegszeit setzte eine Eheschließung die Erlaubnis der Vorgesetzten voraus. Und das Divisionskommando war strikt gegen die Heirat von polnischen Soldaten mit deutschen Frauen.

Liebschaften wurden geduldet, Hochzeiten nicht?

Sie haben Recht, das ist inkonsequent. Es gibt eindeutige Belege dafür, dass Eheschließungen bekämpft wurden, aber im Kriegstagebuch der 1. Panzerdivision finden sich keine Hinweise, dass die Beziehungen zwischen polnischen Soldaten und deutschen Frauen als Disziplinarvergehen verfolgt wurden.

Zu Konflikten kam es trotzdem. In Aschendorf wurde zum Beispiel auf dem Kirchplatz ein Plakat mit den Namen von 35 deutschen Frauen aufgehängt, die angeblich intime Beziehungen mit Polen unterhielten. Sie haben im Zuge Ihrer Recherchen auch mit zwei ehemaligen polnischen Soldaten gesprochen, die nach dem Ende der Besatzungszeit im Emsland geblieben sind – und einheimische Frauen geheiratet haben. Was haben die beiden denn über die Ressentiments der deutschen Bevölkerung berichtet?

Sie haben zumindest angedeutet, dass es nicht einfach für sie war, im Emsland zu leben. Natürlich hat man sie immer sofort als Polen erkannt. Sie konnten anfangs nicht einmal gut Deutsch, obwohl sie beide in der Wehrmacht gedient hatten, bevor sie zur Exilarmee gekommen waren.

Das müssen Sie erklären: Warum wurden Polen in die Wehrmacht eingezogen?

Soweit ich weiß, wird gerade im Umfeld des Deutschen Historischen Instituts in Warschau über dieses Thema geforscht. Grob gesagt, war es so: Nachdem die Deutschen 1939 Polen besetzt hatten, wurde die so genannte volksdeutsche Bevölkerung dort in vier Kategorien eingeteilt. Unter die ersten beiden Kategorien fielen die Deutschen, die auf polnischem Gebiet lebten. In die dritte und vierte Kategorie fielen diejenigen Personen, die vage familiäre Verbindungen nach Deutschland hatten – und damit sozusagen „eindeutschungsfähig“ waren. In Gebieten wie Oberschlesien, das früher zu Preußen gehört hatte, erfüllte natürlich jeder dieses Kriterium.

Und wer als „Volksdeutscher“ galt, wurde dann auch in die Wehrmacht eingezogen?

Richtig.

Viele von diesen polnischen Wehrmachtssoldaten sind schließlich bei der polnischen Exilarmee gelandet. Wie ging das vonstatten?

Sie gerieten in Kriegsgefangenschaft, oder – und das war weitaus häufiger der Fall – sie desertierten. Die Verbände der polnischen Exiltruppen führten sogar ständig Uniformen und falsche Papiere mit sich, und man hat die ehemaligen Wehrmachtssoldaten dann offenbar ohne viel Bürokratie sofort in die eigenen Reihen übernommen.

In Polen hat man bis heute Schwierigkeiten mit den ehemaligen Wehrmachtsangehörigen. Während des Wahlkampfs im vergangenen Jahr kam es zu einem Skandal, als bekannt wurde, dass der aus Kaschubien stammende Großvater des Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk in die Wehrmacht eingezogen worden war.

Ein Schlag unter die Gürtellinie …

von Lech Kaczyński und seinem Wahlkampfchef.

Ich vermute, man spekulierte darauf, dass es immer noch Menschen in Polen gibt, die nicht wissen, dass Kaschuben einfach in die Wehrmacht mussten. Und dass sie in der Wehrmacht genau wie die Oberschlesier entweder nichts gemacht haben – oder desertiert sind, wie auch der Großvater von Tusk.

Lech Kaczyński hat die Wahl gewonnen.

Ich bin kein Spezialist für Wahlkämpfe. Ich weiß nicht, wie sich solche Geschichten auf das Ergebnis auswirken, aber zumindest konnte man erst einmal Stimmung gegen Tusk machen.

War das Thema „polnische Wehrmachtsangehörige“ in Polen vor 1989 einfach tabu?

Während der kommunistischen Zeit war das kein Thema, über das man redete. Ich glaube, ich habe erst während meines Studiums, also Ende der 70er-Jahre, überhaupt davon erfahren, dass Polen in die Wehrmacht eingezogen worden waren. Nachlesen konnte man dazu natürlich nichts.

Wie ist man denn bis 1989 mit dem gesamten Komplex „Exilarmee“ umgegangen? War das auch ein Tabu?

Bis 1956 versuchte man natürlich, die ganze Sache totzuschweigen. Aber das änderte sich schnell. Als ich in der achten Klasse war – das war 1971 –, lasen wir in der Schule zum Beispiel eine Reportage mit dem Titel „Geschwader 303“, in der es um die polnischen Flieger in Großbritannien ging. Das war Pflichtlektüre. Aber natürlich war es nicht leicht, als Historiker zu diesem Thema zu forschen. Schließlich hätte man dafür nach London fahren müssen, und diese Gelegenheit hatte kaum jemand.

Derzeit erscheinen vor allem in Großbritannien erstaunlich viele historische Sachbücher, die sich mit der polnischen Exilarmee beschäftigen. Warum entdecken die englischen Historiker das Thema erst jetzt – sie hätten schließlich schon lange die Gelegenheit gehabt, die Aktenbestände zu durchforsten?

Das war ein politisches Problem. Es gab schon während der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 Aussagen von Churchill, die Polen fest im kommunistischen Einflussbereich verorteten. Damals wurde Polen für die westlichen Staaten zum Feind – und diese Rolle verfestigte sich natürlich während des Kalten Kriegs. Gegenüber der Öffentlichkeit wäre es einfach zu schwierig gewesen, zu sagen: Es gibt schlechte Polen, es gibt aber auch gute Polen. Also hat man die Verdienste der Polen im Zweiten Weltkrieg lieber verschwiegen. In den Büchern, die die englischen Historiker jetzt veröffentlichen, werden 40 Jahre Forschungsarbeit nachgeholt.

Man wollte also eine Doppelstrategie gegenüber Polen vermeiden. War das auch der Grund, bereits seit dem Sommer 1946 die polnischen Soldaten wieder aus dem Emsland abzuziehen?

Die Befürchtungen von Churchill und dem Kriegsministerium hinsichtlich eines Vorrückens der Roten Armee in die westlichen Besatzungszonen haben sich bekanntlich nicht bewahrheitet. Daraufhin konnte sich in Großbritannien die Diplomatie gegenüber dem Militär durchsetzen. Im britischen Außenministerium hatte man sich längst damit abgefunden, dass die Sowjets in Polen das Sagen haben würden. Alles, was die angeblich heile Welt der europäischen Nachkriegspolitik störte, war hinderlich. Das Außenministerium hätte die in London beheimatete polnische Exilregierung darum am liebsten sofort aufgelöst. Aber das ging natürlich nicht. Also versuchte man wenigstens, die Pläne der Exilregierung möglichst nicht noch zu unterstützen. Und in diesem Zusammenhang wurden dann eben auch die Soldaten der polnischen Exilarmee aus dem Emsland abzogen.

Dort wandelte sich die Stimmung. Wenn man Berichte über die Situation im Emsland liest, hat man das Gefühl, dass die Menschen erst seit der zweiten Hälfte des Jahres 1946 ihren antipolnischen Ressentiments wirklich Ausdruck verliehen. Die erwähnte Episode aus Aschendorf etwa – in der die Liebesbeziehungen zwischen deutschen Frauen und polnischen Soldaten öffentlich gemacht wurde – ereignete sich im März 1947, kurz vor dem endgültigen Abzug der Truppen im Mai. Was steckt dahinter?

Es gab einen Autoritätsverlust. Auf der deutschen Seite hat man begriffen, dass die Polen gegenüber den Briten schlechte Karten hatten. Das haben nicht nur die Landräte und Bürgermeister verstanden, sondern auch die kleinen Leute. Die polnischen Soldaten mussten schließlich ihre stolzen Sherman-Panzer sowie nach und nach ihre anderen Waffen abgeben. Und ich glaube, dass auch den Polen mittlerweile klar war, dass die Besatzung des Emslands für sie persönlich eine Sackgasse war. Die Nachrichten, die aus Polen kamen, waren gar nicht so schlecht: Die ersten zwei Jahre der kommunistischen Herrschaft waren durch den Wiederaufbau und die Sehnsucht nach einem neuen Leben geprägt, und viele der Soldaten überlegten, jetzt doch in ihre Heimat zurückzukehren. Viele träumten auch von einem Leben in Frankreich, in Großbritannien, in Australien oder in den Vereinigten Staaten – Westdeutschland war vor dem Wirtschaftswunder nicht besonders interessant.

Hatten die polnischen Soldaten denn überhaupt die Wahl, nicht nach Polen zurückzugehen?

Ihnen stand die Möglichkeit offen, britische Staatsbürger zu werden. Das war allerdings ein längerer Prozess. Noch vor der Entlassung bekamen sie die Möglichkeit, Sprachkurse zu besuchen, eine Umschulung oder gar eine britische Ausbildung zu absolvieren. Danach bekamen sie dann eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis. Ganz am Ende stand die Staatsbürgerschaft.

Wie haben sich die Soldaten aus dem Emsland denn entschieden?

Etwa die Hälfte der fast 20.000 in Deutschland stationierten polnischen Besatzungssoldaten ist nach Großbritannien gegangen. Die andere Hälfte ging nach Polen zurück, einige hundert kamen nach Frankreich und Belgien. Nur einige wenige Soldaten blieben in Deutschland.

KOLJA MENSING, 35, lebt als freier Autor in Berlin. Jan Rydels Buch „Die polnische Besatzung im Emsland 1945–1948“ (397 Seiten, vergriffen) erschien 2003 im Fibre Verlag