„Pisa kümmert sich nicht um Seriosität“

Der Paradigmenwechsel hin zum Output schadet den Schulen, sagt der Bildungsforscher Georg Lind. Dabei gerieten die Unterrichtsbedingungen aus dem Blick. Studien wie Pisa sind für ihn Teil einer „global agierenden Testindustrie“

taz: Herr Lind, norddeutsche Länder wie Niedersachsen und Hamburg führen derzeit die „Selbstverantwortete Schule“ ein. Bei einer GEW-Konferenz in Braunschweig haben Sie vor diesen Konzepten gewarnt.

Georg Lind: Bei den Modellen von Hamburg und Niedersachsen geht es im Grunde um den Paradigmenwechsel von der Inputsteuerung zur Outputsteuerung und die Messung der Leistungen durch Standards. Ich habe solche Prozesse in den USA erforscht, wo man das seit Jahren macht.

Und welche Erkenntnis gewonnen?

Dies ist dort gescheitert. Man wollte mehr Transparenz schaffen und gucken, ob die öffentlichen Gelder richtig verwendet werden. Der Gedanke war ursprünglich ganz sympathisch, nicht nur Schulen zu bauen und Lehrer einzustellen, sondern die Lehrer auch dafür verantwortlich zu machen, dass die Schüler das Richtige fürs Leben lernen. Nun geriet dort aber der Input-Teil aus dem Blick, weil nur noch geschaut wird, welche Schule gut abschneidet, und nicht mehr, welche Bedingungen sie hat. Der Gedanke der Outputsteuerung hat sich radikalisiert und wurde monomanisch. Es hat sich eine Testindustrie entwickelt und dann kam man auch noch auf die Wahnsinnsidee der internationalen Vergleiche.

Sie meinen Pisa?

Ja. Das hat einen Haufen Geld gekostet und man weiß nicht, was man mit den Ergebnissen anfangen soll. Im Hintergrund wirkt die global agierende Testindustrie, die sich über die OECD und die Unesco in die nationalen Bildungssysteme reinpustet. In den USA gibt es den Anspruch, jeden Augenblick Outputvergleiche zu machen. Aber dort werden die Schulleistungen nicht besser, sondern eher schlechter, die Zahl der Sitzenbleiber ist von nahezu null Prozent auf 30 Prozent geschnellt, wie das Time Magazine kürzlich auf seiner Titelseite berichtete. Die schwachen Schüler werden regelrecht aus den Schulen gedrängt, um die Durchschnittswerte anzuheben. Für diese Tests werden Standards vorgegeben, das ist der Tod jeden Lernens. Denn das, was nicht standardisiert ist, darf man nicht mehr denken. Und weil der Test unter Zeitdruck stattfindet, werden die bestraft, die gelernt haben, erst mal nachdenken.

Sie stellen Pisa in Frage?

Ich bin seit 30 Jahren Test- und Bildungsforscher und plädiere für eine seriöse Evaluation dessen, was an Schulen gemacht wird. Pisa kümmert sich nicht um Seriosität. Die Pisa-Tester schütteln „Kompetenzen“ aus dem Ärmel, ohne nachzuweisen, was sie bedeuten. Man weiß nicht, ob ein Schüler mit hohem Pisa-Wert später im Leben erfolgreich ist. Man weiß auch nicht, was zehn Punkte Abstand bedeuten und ob das überhaupt schlimm ist.

Was halten Sie von landesweiten Vergleichstest?

Solche Vergleichstest sind in Ordnung, wenn die Kultusminister damit ihre Politik überprüfen wollen. Sie sollten nicht genutzt werden, um die einzelne Schule zu gängeln. Es gibt eine bundesweite Bewegung unter den Kultusministern, sich aus der Verantwortung zu stehlen und sie den Schulen zuzuschieben.

Was für ein Modell empfehlen Sie?

Es sollten schon mehr Kompetenzen nach unten verlagert werden, aber nicht nur auf einen Menschen.

Den Schulleiter?

Ja. Man sollte nicht alles auf den Schulleiter fokussieren, der darf nicht überlastet und überfordert werden. Man sollte den Schulen nicht die Verwaltung übertragen, sondern die pädagogische Verantwortung. Eines hat Pisa immerhin herausgefunden, dass die Länder wie Finnland oder Südtirol erfolgreich sind, wo die Lehrer auch über ihre eigenen Lehrpläne entscheiden können. Nur leider kommt das in Niedersachsen und Hamburg nicht vor.

Interview: Kaija Kutter