Hart, aber verdammt erfolgreich

Die mit einem autoritären Erziehungsmodell arbeitenden KIPP-Schulen schicken in den Vereinigten Staaten Unterschichtskids auf den Weg zum Erfolg. Die Schüler müssen sich an die Regeln halten, dafür stehen ihnen motivierte Lehrer zur Verfügung – wenn es sein muss, 24 Stunden am Tag

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Diese Schule ist kein Modell für Integration. Das leuchtend blau angemalte Backsteingebäude mit seinen knallgelben Türen, durch die es zu zwei Schulen und einem Kindergarten geht, liegt im Bezirk Southeast. Und das sagt schon alles. Hier, gleich hinter der Kuppel des US-amerikanischen Kongresses, wohnt die Armut mit all ihren Begleitern. Für Weiße sei hier nach Einbruch der Dunkelheit ein „No-go-aerea“, wird immer wieder gesagt. So überrascht es nicht, dass kein einziges weißes Kind hier die Schulbank drückt. Weiß sind hingegen die Lehrenden, die im ersten Stock des Gebäudes unterrichten. Täglich neun Stunden lang, 320 Schülerinnen und Schüler. Das Prinzip, nach dem diese ungewöhnliche High School arbeitet hat einen griffigen Slogan: „Knowledge is Power Program“, kurz KIPP. Oder auch KEY: „Knowledge empowers you“. Wissen ist Macht. Ihr Symbol ist ein Schlüssel, weil „key“ auf Englisch Schlüssel bedeutet.

Kultur der hohen Erwartungen

Hier büffelt keine handverlesene IQ-Elite, sondern die schwarzen Kids aus den verwitterten Häusern und den Sozialwohnungen der Nachbarschaft. Ihre Eltern leben in Armut, getrennt, von Drogen- oder Alkoholproblemen verfolgt. Dennoch schneiden ihre Kids an der KIPP-Schule regelmäßig bei stadtweiten Wettbewerben in Mathe und Lesen als Jahrgangsbeste ab. Warum das so ist? „Weil wir hier eine Kultur der hohen Erwartungen pflegen“, sagt die Schulgründerin und Direktorin Susann Schaeffler. Und meint Disziplin, Strenge, Engagment. In einem Land wie den USA, in dem verzweifelte Eltern ihre Kinder sogar in so genannte Boot-Camps geben, Lager in denen widerborstige Teenager von Militärpersonal brutal gedrillt und geschlagen werden, löst autoritäre Erziehung kaum die gleichen Reflexe aus wie in Deutschland.

Einer der wichtigsten Leitsätze an Schaefflers Schule ist denn auch: „No excuses, no shortcuts“ – Kein Pardon, keine schnellen Lösungen. Der Unterricht dauert täglich von 8 bis 17 Uhr, samstags nur bis 13 Uhr. Zusätzlich gibt es täglich genug Hausaufgaben für zwei Stunden Heimarbeit. Telefonbuchdicke Aufgabenpakete begleiten die Kids in die Sommerferien und eine 14-tägige Sommerschule vor dem eigentlichen Schulbeginn ist Pflicht.

Umgekehrt dürfen die Teeanger, die der Schulbesuch nichts kostet, überdurchschnittlich bezahlte und motivierte Lehrende erwarten. Die stehen den Schülern 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche – per Handy – zur Verfügung. Wer nicht daran glaubt, dass es Ghetto-Kids auf Colleges schaffen können, wenn sie nur streng und intensiv betreut werden, ist hier fehl am Platz. Das macht Susan Schaeffler gleich klar. „Ich habe mich bei der Gründung für das Modell der KIPP-Schule entschieden, weil es den Schulleitern freie Hand beim Management lässt. Ich kann selbst entscheiden, wer hier arbeitet – und wer hier nicht hinpasst.“

Schaeffler hat selbst zuvor neun Jahre an herkömmlichen „Public Schools“, öffentlichen, staatlichen US-Schulen, unterrichtet. „Ich habe damals schon versucht, den Kids mehr zu bieten. Aber das staatliche Schulsystem lässt besonderes Engagement gar nicht zu.“ Im Rückblick sagt sie, „dass es in den Vereinigten Staaten generell an einer Kultur des Respekts für die Lehrenden mangelt, sowohl bei den Eltern und den Kids, als auch unter den Lehrern selbst.“ 2001 wurde sie von einer Stiftung angesprochen, die ihr das nötige Startkapital anbot, um eine der neuartigen KIPP-Schulen in der US-Hauptstadt zu gründen.

„Erfunden“ haben den Schultyp 1994 Michael Feinberg und David Levin, zwei Lehrer aus Houston, Texas. Sie waren frustriert über dem schlechten Lernerfolg ihrer Fünftklässler aus sozial benachteiligten Familien. Nach einem einjährigen Feldversuch mit längerer Unterrichtszeit und strengerer Disziplin bestanden 98 Prozent ihrer Schüler den texanischen Standardtest – statt der sonst üblichen 50 Prozent. Ein Erfolg, der Superintendenten Rod Paige, den späteren US-Bildungsminister, überzeugte.

Signifikant mehr gelernt

Heute gibt es landesweit 48 KIPP-Schulen, alle in sozialen Brennpunkten angesiedelt. Eine eigene Stiftung finanziert die Gründungen. Im vergangenen Jahr evaluierte eine unabhängige Forschungsgruppe zum ersten Mal 27 KIPP- Schulen. Sie attestierte den rund 1.800 getesteten Schülern, latino- und afroamerikanischen Fünftklässlern, in einem einzigen Schuljahr „signifikant“ mehr gelernt zu haben als der Jahrgangsdurchschnitt. Und dass, obwohl sie allgemein bei Schuleintritt rund zwei Jahre hinter dem Niveau ihrer Altersgenossen aus der Mittelschicht hinterher hinken.

In den hellen, sauberen Fluren der Washingtoner KIPP-Schule hängen an einer „Wall of Fame“ die ordentlich aufgeklebten Zusagenschreiben renommierter Colleges. Jedes mit einem großen gelben Pappschlüssel überklebt, der den Namen des Mädchens oder des Jungen trägt, das/der „es geschafft hat“. Andere Wände stellen „amazing work“ vor, ausgezeichnete Einser-Klausuren. Über jedem Türrahmen prangt zudem ein der KIPP-Bibel entnommener Sinnspruch. Über dem Musikraum steht „We are a team and family“ – Wir sind ein Team und ein Familie; über einem Klassenraum „Expect more than others think is possible“ – Erwarte mehr als andere für möglich halten.

Das, was an ihrer Schule geschaffen wird, sagt Schaeffler, sei eine Kultur des Anspruchs. „In den öffentlichen Schulen wird von Kids aus den Ghettos irgendwie immer weniger erwartet. Selbst gut meinende Lehrer lassen ihnen schwächere Leistungen durchgehen – später entschuldigt sie das Leben aber nicht mehr, dann werden sie ausgegrenzt.“ Susan Schaeffler stellt umgekehrt sogar höhere Ansprüche: „Egal was sich im Leben der Kids gerade abspielt, wir senken unsere Standards nicht, wir verlangen Disziplin.“

Einigen wenigen Eltern war das zu heftig. Eine Hand voll hat ihre Kinder nach ein paar Monaten wieder von der Schule genommen. Die anderen, zu 80 Prozent Sozialfälle oder unterbezahlte, allein erziehende Mütter, sind begeistert. „Ich wusste ja vorher, auf was wir uns da einlassen, die Schulleitung hat das genau erklärt, ich habe alles unterschrieben, weil ich begeistert bin davon, wie die Kinder hier lernen“, sagt Sharmaine Johnston, Mutter einer Sechstklässlerin. Alle Beteiligten unterschreiben nach einem intensiven Aufnahmegespräch einen Ausbildungsvertrag, in dem penibel geregelt ist, welche Maßnahme auf welches Verhalten folgt. Vom Verbot greller Schminke und knallenger Jeans über das Konfiszieren von Handys bis hin zum In-der-Ecke-sitzen, dem so genannten benchen, ist alles in einem Strafkatalog geregelt. „Wir sind konsequent – aber fair, denn es gibt keine Überraschungen“, nennt es eine der Lehrerinnen.

In einem der Klassenzimmer sitzt tatsächlich ein hoch gewachsener Schüler allein an einem Tisch, abseits der Klasse, aber direkt vor dem Lehrer. Joel, 15, wurde „gebencht“, weil er zum dritten Mal seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Nun darf er so lange nicht mehr mit seinen Mitschülern reden, bis seine Eltern zu einem Gespräch in der Schule erschienen sind. Ausgesondert sein – in der Pubertät eine Höllenqual. In dem Gespräch wird er seiner Mom und dem Lehrer Vorschläge unterbreiten müssen, wie er sein Verhalten bessern will – beim nächsten Mal könnte er fliegen.

„Ich habe hier echt gelernt, mich selbst in den Griff zu kriegen“, sagt die 14-jährige Andrea mit dem weichen Singsang der schwarzen Viertel in der Stimme. Sie lebt bei ihrer Tante. Rechtsanwältin will sie mal werden, oder Forensikerin, wie die bei der Fernsehserie CSI. „Früher habe ich mich gelangweilt, in den Tag hinein gelebt. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe, dass wird mir ja später auch niemand mehr sagen.“ Bald schon will sie auf ein gutes College. „Es war verdammt hart“, sagt Andrea, gut, dass jetzt was anderes kommt. Vier Bewerbungen hat sie schon geschrieben, damit sie ein Stipendium bekommt. Im Sommer, wenn Ferien waren, stand Andrea schon um 6 Uhr auf und machte ihre für den Tag vorgesehenen Hausaufgaben. „Crazy, dachten die anderen am Anfang, so viel zu lernen. Heute fühle mich viel schlauer als sie – und sie finden es toll, dass was aus mir wird“, sagt sie stolz.