„Der Peak wird in rund 30 Jahren erreicht“

DEMENZ Weil die Gesellschaft altert, steigt auch die Zahl der Alzheimerkranken. Eine Große Koalition muss endlich darauf reagieren, fordert die Demografieforscherin Gabriele Doblhammer-Reiter

■ 50, ist Direktorin des Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels an der Universität Rostock und Leiterin des Nationalen Demenzregisters Deutschland.

taz: Frau Doblhammer-Reiter, derzeit leiden in Deutschland 1,2 Millionen Menschen an Demenz. Sie sagen, dass sich diese Zahl bis 2050 mehr als verdoppeln wird. Was muss eine Regierung in den nächsten vier Jahren tun, um einen Pflegenotstand zu vermeiden?

Gabriele Doblhammer-Reiter: Sie muss jetzt die Weichen stellen, um gewappnet zu sein für immer mehr potenziell pflegebedürftige Menschen von 80 Jahren und älter. Der Peak wird in rund 30 Jahren erreicht werden, wenn die zahlenmäßig große Generation der Babyboomer in dieses Alter kommt. Demenzen sind die Erkrankungen im Alter mit dem höchsten Pflegebedarf. Es ist daher überfällig, kognitive Beeinträchtigungen endlich ausreichend in der Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Eine Anhebung des Beitragssatzes wird unumgänglich sein. Zweitens muss die ambulante Pflege ausgebaut werden, um Angehörige bei der Pflege zu entlasten. Die Regierung wird nicht mehr darauf vertrauen dürfen, dass vor allem Frauen hierfür weiterhin ehrenamtlich und uneingeschränkt verfügbar sind.

Wer soll stattdessen pflegen?

Es gilt, den Pflegeberuf attraktiver zu machen, durch bessere Ausbildung, Entlohnung und Aufstiegschancen. Ansonsten fehlen nicht bloß die deutschen Pflegekräfte, sondern auch die osteuropäischen. Denn deren Gesellschaften schrumpfen und altern bekanntlich auch.

Ein Medikament gegen Alzheimer gibt es nicht. Was also kann man dem steigenden Anteil Demenzkranker in der Bevölkerung entgegensetzen?

Wenn es gelänge, das Risiko, an Demenz zu erkranken, um ein Prozent pro Jahr zu reduzieren, dann würde dies zumindest den Anstieg der Demenzen aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung kompensieren. Die Risikofaktoren, die Demenzen begünstigen, erforschen wir derzeit. Es sind sehr wahrscheinlich dieselben wie für Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, erhöhte Cholesterinwerte, Rauchen, Bewegungsmangel in der Mitte des Lebens. Es muss also künftig verstärkt um Prävention gehen.

Sind Sie optimistisch, dass das gelingen kann?

Wir haben festgestellt, dass das Risiko für Frauen in Deutschland, im Alter zwischen 75 und 85 Jahren an Demenz zu erkranken, zwischen 2007 und 2009 um 3 Prozent gesunken ist. Bei den Männern konnten wir das leider nicht feststellen.

Die Frauen leben gesünder?

Auch. Vor allem aber denken wir, dass sich hier der Zuwachs an Bildung bemerkbar macht, den die Frauen im 20. Jahrhundert erworben haben. Wer sein Gehirn ein Leben lang fordert, der kann die pathologischen Einschränkungen, die eine Demenz verursacht, besser ausgleichen.

Andere Teile des Gehirns übernehmen die Funktionen der zerstörten Bereiche?

■ In der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege wird über eine Bürgerversicherung und damit über die Abkehr vom Zweiklassensystem in der Krankenversicherung verhandelt. Die SPD-Forderung dürfte am Widerstand der Union scheitern.

■ Im Pflegesektor scheint eine Einigung möglich: Union und SPD wollen Demenzerkrankungen bei der Einordnung in eine Pflegestufe stärker berücksichtigen. Dafür sind gut 5 Milliarden Euro im Gespräch. Die Beiträge zur Pflegeversicherung würden um 0,5 Prozentpunkte angehoben. (hh)

Sie kompensieren sie besser, weil sie daran gewöhnt sind, sich zu vernetzen. Das Erstaunliche ist: Sie können zwei Frauen mit derselben Anzahl an amyloiden Plaques im Gehirn haben …

Eiweiß-Ablagerungen, die Demenzkranke haben.

Ja, und die eine dieser beiden Frauen hat eine ausgeprägte Demenz, während die andere noch klar bei Verstand ist. Wir sprechen hier von der kognitiven Reserve, die sich spät im Leben auszahlt.

INTERVIEW: HEIKE HAARHOFF