„Wir brauchen keine Utopie, sondern Geld“

Je knapper die Arbeit wird, umso heftiger werden die Arbeitslosen gezwungen sich Arbeit zu suchen, die es nicht gibt. Dabei geht es auch anders, glaubt Guillaume Paoli. Der Philosoph träumt weiter von glücklichen Arbeitslosen

taz: Herr Paoli, sind Sie motiviert für dieses Gespräch?

Guillaume Paoli: Voll motiviert!

Die Motivation nimmt „eine zentrale Stelle im kapitalistischen Prozess ein“, schreiben Sie. Was ist denn so wichtig an der Motivation?

Das kapitalistische System herrscht nicht durch Zwang, sondern durch Verführung, Überredung, Motivation. Man kann Menschen zum Arbeiten zwingen. Aber man kann niemanden zwingen, gut zu arbeiten. Der gesamte Kosmos des Konsums ist ein Bereich, der ohne starke Motivation der Konsumenten nicht funktionieren würde.

In allen Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft tobt ein Kampf um unsere Motivation. Arbeitslose erhalten erst dann ein Existenzrecht, wenn sie bei der Suche nach einer nicht existierenden Stelle ausreichend Engagement zeigen. Es geht da um die Zurschaustellung enthusiastischer Unterworfenheit. Wenn Motivation aber so zentral für die Marktwirtschaft ist, dann ist sie aber auch ihr schwacher Punkt.

Inwiefern?

Wenn die Leute immer weniger Lust haben, mitzumachen, ist das offenbar ein Problem für das System. Und sie haben immer weniger Lust dazu. Ich spreche gerne – Marx paraphrasierend – vom „tendenziellen Fall der Motivationsrate“. Die Leute sehen immer weniger Sinn in dem, was sie machen.

Widerspricht das nicht jeder Empirie? Man begegnet doch andauernd nur Leuten, die sich in ihrer Arbeit verwirklichen wollen, und zwar am liebsten 12 bis 14 Stunden, wenn nötig unterbezahlt.

Gewiss, aber sie spüren auch, dass ihre Motive illusionär sind. „Selbstverwirklichung“, „Kreativität“, „Individualität“, dieses ganze Managementgequatsche führt zu nichts – oder besser: meist zu seinem Gegenteil. Die Motivation schlägt dann um in Demotivation.

Das ist der Witz aller Motive: Das Erstrebte darf nie erreicht werden. Mit der Verwirklichung des Erstrebten wäre die Motivation ja perdu.

Genau. Was ich kritisiere, ist diese Begrifflichkeit, die natürlich ganz reale Resultate hat. Mir ist es aber auch wichtig, auf die Selbstbegrenzung meiner Kritik hinzuweisen. Ich wünsche mir natürlich keineswegs, dass lauter unmotivierte Menschen herumlaufen. Das wäre ja deprimierend! Ich denke, dass die Menschen eine spontane Motivation haben, und die darf ihnen weder vorgeschrieben werden noch darf sie von Kritikern – also Leuten wie mir – erläutert werden. Mit geht es um die Dekonstruktion der „offiziellen“ Motive.

Welchen Stellenwert hat denn Geld als Motiv? Es ist doch das Eigenartige am „offiziellen“ Motivationsdiskurs, dass man sagt, Managern muss man, um sie zu motivieren, ganz viel Geld bezahlen, während man annimmt, den Arbeitslosen muss man das Geld kürzen, um sie zu motivieren. Gehören Manager und Arbeitslose gar nicht der gleichen Spezies an?

Wenn man das erklären will, muss man sich dem Suchtmodell zuwenden. Wir kennen die Arbeitssucht und wir kennen die Geldsucht. Das Geldsystem ist ein Suchtsystem. Und da gibt es die Süchtigen, die immer mehr brauchen, und dann gibt es die Süchtigen, die wegen der Mangelsymptome an ihren Dealer gefesselt sind.

So ist das mit den Arbeitslosen, die gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen. In den oberen Etagen geht es nicht um Konsum, sondern um das Spiel an sich, wie im Casino. Aber das Wesentliche an dem Motivationsdiskurs ist, dass er alles entwertet. Man kann heute nicht mehr von „Kreativität“ als positivem Wert sprechen, wie man das noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren tat. Die Wörter sind kontaminiert. Es hat auch keinen Sinn, dem eine „neue Definition“ von Kreativität entgegenzustellen. Die würde bald wieder in Marktmotive umgewandelt. Deshalb muss man sich auf eine gewisse Negativität beschränken.

Also das Konstuktivitätsgebot, dem sich jede Kritik schnell gegenübersieht, abzulehnen?

Die Motive zu dekonstruieren, die am Markt sind.

Sie kritisieren aber auch den Sozialstaat. Man hat fast den Eindruck, Sie sind ganz froh darüber, dass von dem nur eine Ruine mit bröckelnden Fassaden und großen Löchern übrig ist. Stimmt der Eindruck?

Nein, man kann nicht sagen, dass ich darüber froh bin. Ich war ganz zufrieden damit, als ich noch Arbeitslosenunterstützung bekam. Man kann nicht sagen, dass es heute besser als vor 25 Jahren ist, als die sozialen Sicherungssysteme noch funktionierten. Aber das ist noch kein Grund, dem Sozialstaat nachzutrauern. Ich kann mich noch daran erinnern, dass meine Generation massiv gegen die Vorstellung angetreten ist, sozialstaatlich verwaltet zu werden: Diese Bevormundung war eine gruselige Vorstellung.

Das Paradox des Neoliberalismus ist, dass er sich ja auf reale Wünsche und Bedürfnisse stützte. Jeder wollte mobiler sein, sein Leben lang nicht nur in der gleichen Fabrik arbeiten. Nur hat man sich anderes gewünscht als das, was der Neoliberalismus daraus machte.

Das ist im Umkehrschluss auch das Paradox einer links-libertären Sozialstaatskritik, die sich besonders gut auf Basis eines funktionierenden Sozialstaates äußern ließ.

Nur hat der Sozialstaat jahrzehntelang die Vorstellung eines lebendigen sozialen Gefüges untergraben. Statt auf ein soziales Leben hat er auf eine staatliche Apparatur gesetzt. Wenn der Sozialstaat dann wegbricht, sind die Leute völlig allein.

Romantisiert das nicht die „natürlichen Solidaritäten“? Ich muss mich um den unsympathischen Nachbarn von vis-a-vis nicht mehr scheren. Das hat doch etwas Befreiendes.

Das Soziale besteht gerade darin, auch mit dem unsympathischen Nachbarn, mit den Vollidioten von nebenan klarzukommen. Die Verstaatlichung aller Beziehungen und Bedürfnisse ist keine Antwort.

Wollen Sie eigentlich die Gesellschaft ändern oder die Einzelnen neu konfigurieren?

Weder noch. Man sagt seit Max Weber, die Welt ist entzaubert. Dabei ist die Welt völlig verzaubert, voller Gespenster, voller Begriffe, die eigentlich nicht begriffen werden. Ich will nicht mehr, als diese anders zu besehen. Ich glaube nicht, dass man eine Utopie braucht. Es geht zunächst darum, unsere Realität anders zu sehen. Das ist es, was wir mit den „Glücklichen Arbeitslosen“ wollten. Wir erlebten, dass durch die Automatisierung Arbeitsplätze vernichtet werden. Und dann beklagt man, dass so viele Menschen ohne Arbeit sind. Man spricht vom Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

In Wirklichkeit führt man einen Kampf gegen die Arbeitslosen. Der Umstand, dass immer weniger arbeiten müssen, führt zur Verschärfung des Zwangs, Arbeit zu suchen – obwohl natürlich keine zu finden ist. Alles Gerede widersprach der persönlichen Erfahrung. Und diese Absurdität wollten wir verdeutlichen. Aber wir haben keine Vision, wohin die Kritik führen soll. Macht auch nichts: Die Visionen sind ohnehin immer gescheitert.

Statt Utopie, mit dem operieren, was man vorfindet?

Wir haben damals etwa gesagt, wenn es eine Arbeitslosenunterstützung gibt, soll sie bedingungslos sein. Und das Geld, das man für die Bekämpfung der Arbeitslosen ausgibt, soll man gleich dazulegen.

INTERVIEW: ROBERT MISIK