Zu Besuch am Mythenquai

Paul Parin, fast 90 Jahre, einst Mitbegründer der Ethnopsychoanalyse: Und noch immer von Zürich aus auf Mission gegen die Schrecken der Welt

VON MARKUS VÖLKER

Der Greis kommt mit einer Gehhilfe um die Ecke. Paul Parin, der große Psychoanalytiker, steht gebeugt über dem Gerät. Er steckt in einem brauen Cordjackett und strahlt eine vitale Gebrechlichkeit aus. Der fast Neunzigjährige blinzelt den Gast munter an, mustert ihn und fragt spitzfindig: „Haben Sie eigentlich Fragen an mich?“

Parin ist an diesem Nachmittag nicht allein. Seine Sekretärin Frau Bitterlin, die seit Jahrzehnten in der geräumigen Wohnung am Zürcher Utoquai 41 Dienst tut, ist da, auch ein Mann, den der Greis als „unseren Ziehsohn“ vorstellt. Der Ziehsohn bringt Mineralwasser und geht wieder. Der Alte wieselt mit dem Rollator in einen Raum, der sich als das ehemalige Behandlungszimmer herausstellt. Die Sonne scheint grell vom See herein. Die Vorhänge müssen geschlossen werden, niemand soll geblendet werden.

Drinnen weist Parin einen Platz neben der Couch an, dem Utensil des Psychoanalytikers, fast an der Stirnseite der Liege. Ein Kompliment? Ein Rollenspiel, das sich andeutet? Er selbst plumpst in einen Korbsessel vis-à-vis der Couch und nestelt an einer Packung Zigaretten, zieht eine Gitanes heraus und zündet sie an. Weil er schlecht sieht, bereitet ihm das Schwierigkeiten.

Die Zumutungen des Alters scheinen Parin jedoch nicht so viel anzuhaben. Eher beiläufig zitiert er den italienischen Philosophen Norberto Bobbio: „Wer das Alter lobt, hat ihm nie ins Antlitz geschaut.“ Wer nichts von Parins Augenleiden wüsste, könnte ihn für einen höchst scharfsichtigen Beobachter halten. Er nimmt jede Regung wahr, ist von einer verblüffend jugendlichen Aufmerksamkeit und scheint trotz seines trüben Blicks tief in das Innerste seines Gastes zu schauen. Der Menschenkenner röntgt andere Seelen immer noch.

Seine Wohnung ist zu einer Pilgerstätte geworden: Journalisten, Kollegen, Freunde kommen zu ihm, um diesen Dodo der Denker zu bestaunen – und seine Geschichten zu hören, vielleicht zum letzten Mal. Und weil Sigmund Freud in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte, macht es der greise Geschichtenerzähler umsonst. Diese Lehrstunden beim Nestor der dissidenten Psychoanalyse nach Zürcher Art sind gratis.

Parins Liege, die Unterlage für unbewusstes Gedankengut, ist aus Stoff, nicht aus Leder, zudem recht weich, wie ein Sitztest ergibt. Das Möbel ist seit Jahren im Ruhestand. Einst lagen Parins Analysanden auf dieser Pritsche mit Blickrichtung zum Fenster. Mit etwas Fantasie erschien ihnen das gegenüber liegende Seeufer am Mythenquai. Bisweilen schickte ein Krankenwagen Blaulicht in die Parterrewohnung; das immer gleiche Szenario seit 1952.

Parin hat hier über vier Jahrzehnte acht bis zehn Stunden täglich auf seinem Stuhl hinter der Couch gesessen und Geschichten gehört, tragische, banale, aufschlussreiche. Die Rolle war ihm nie mühselig oder langweilig, wie er sagt, wenngleich er heute eine andere besetzt. Heute spricht Parin. Material hat er reichlich. Infiziert von einer unstillbaren Neugier, hat er das Erzählte aufgesogen. Diese Methode hat Parin auch außerhalb der vier Wände des Zürcher Utoquais angewandt. Der Alte mit dem Schnurrbart und dem schlohweißen Haar ist randvoll mit Geschichten.

Er wollte es immer wissen. Es. Er spürte dem Unbewussten bis nach Afrika nach. Parin hat multikulturelles Flair in die freudianische Community gebracht. Linke Liberale lieben ihn dafür.

Man muss gar keine Fragen stellen, damit Parin von seinen Streifzügen durch die weite Welt des Unbewussten redet. Leichte Anstöße reichen. Die Steine der Erzählung fallen in rascher Folge. An mancher Stelle stockt seine Rede. Dann findet Parin heraus aus dem Strudel der Assoziationen – kurz. Er möchte wohl nicht unhöflich wirken und dem Gast eine Möglichkeit zum Einhaken bieten. Einmal sagt er sogar: „Jetzt besinnen Sie sich doch!“ Mehrfach hat er darum gebeten, man möge präzise Fragen stellen, damit er nicht vom Hundertsten ins Tausendste kommt, damit der Gast mit handlichen Details aus Parins großem Erfahrungsschatz nach Hause geht und der Meister sich nicht allein im eigenen Gedankenstrom verliert. Die erste Aufforderung dazu hat Parin auf eine Kassette gesprochen und nach Berlin geschickt. „Mein Talent, kurz und präzise zu antworten, ist leider auch meinem Alter zum Opfer gefallen.“ Er schreibt keine Briefe mehr, er bespricht Tonbänder. Seine Augen werden schlechter, grauer und grüner Star.

Nach zwei Operationen war „der Augenmensch“ im Sommer des vergangenen Jahres vollkommen blind. Seine Lage hat sich gebessert. Parin erkennt Dinge schemenhaft, kann Ideen zu Papier bringen, ist aber weit davon entfernt, belletristisch schreiben zu können. „Also höre ich Bücher, den ‚Ulysses‘ zum Beispiel oder Tolstoi“, sagt er, zieht an der Gitanes. Er trifft beim Abaschen nur den Teppich; als er das Malheur bemerkt, versucht er, die Asche mit dem Fuß zu verwischen.

Sein Vermächtnis teilt er auf narrative Weise mit. Gern auch mal stundenlang. Parin erzählt unermüdlich. So manchen Besucher hat er schon unter den Tisch geredet. Viel Jüngere kapitulierten vor seiner Energie. Sicherlich ist Paolo Giulio Fortunato Parin, 1916 im slowenischen Polzela auf dem Grundstück eines ehemaligen Dominikanerklosters und als Sohn eines Gutsbesitzers geboren, immer noch auf einer Mission. Der Sozialist, liberale Weltbürger, assimilierte Jude, der Exilant unter Eidgenossen, Wanderer zwischen den Welten hat immer an eine gerechtere Welt geglaubt und vor allem daran, dass er als Psychoanalytiker diese Gerechtigkeit schaffen kann. Oder zumindest Erkenntnis, Weitsicht, Großmut.

Wenn man so will, ist er ein verzweifelter Utopist, einer, der das Persönliche partout politisch verstehen will und die Psychoanalyse als ein Instrument der Gesellschaftskritik. An einem schwierigen Spagat hat sich Parin da zeitlebens versucht: Analytiker zerstören Illusionen, Utopisten schaffen welche.

Schon Sigmund Freud ging es um die Wahrheit, um nichts als die reine Wahrheit, darum, die „Brunnentiefe der Zeiten auszuloten, wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründen“. Natürlich wusste der gescheite Wiener aus dem neunten Gemeindebezirk, dass die Wirkungsmacht des Analytikers begrenzt ist und er aus neurotischem Elend allenfalls normales Elend machen kann. Wenn sich schon das Individuum nicht befreien kann, wie soll es dann eine ganze Gesellschaft?

Für Parin ist das kein echter Widerspruch. „Der Intellektuelle tut Dinge, von denen er weiß, dass sie nichts bewirken. Aber er tut sie trotzdem“, sagt er. Ein innerer Zwang ließ ihn zu Pioniertaten auf dem Feld der Psychoanalyse aufbrechen. Mit seiner Frau Goldy Parin-Matthèy und dem Weggefährten Fritz Morgenthaler hat er die psychoanalytische Praxis am Utoquai verlassen und im Feld geforscht, bei den Dogon und den Agni in Westafrika etwa. Daraus ist dann die Ethnopsychoanalyse entstanden, ein neuer Ansatz innerhalb der Psychoanalyse.

„Statt, wie beim Heilungsprozess Ich zu schaffen, wo Es war, haben wir versucht, Ich zu erkennen, das sich in einer anderen Weise als bei uns aus dem Es entwickelt.“ Die Erkenntnisse hat Parin auf „politisch reaktionäre Schichten“, Schweizer und süddeutsche Kleinbürger, angewandt, auch auf „unterdrückende Institutionen“, die Polizei. Oder er verglich Juden und Homosexuelle als „Fremde“ in einer diskriminierenden Umwelt. Manche fanden das unerhört. Andere sahen ihn nicht fern der Orthodoxie, nah bei Freud selbst – ein ausgesprochenes Kompliment, zumal Parin auch keine Scheu hatte, sich als „Objekt der Übertragung“ einzubringen und der versammelten Fachwelt von eigenen homoerotischen Tendenzen zu berichten. Auch später, als er Belletristisches schrieb, hat er seine Leser weithin verblüfft. Der Rezensent einer Tageszeitung räumte nach der Lektüre von Parins „Leidenschaft des Jägers“ ein, eine Erektion bekommen zu haben.

Paul Parin hat sicherlich nicht daran geglaubt, die Welt umkrempeln zu können, aber er war überzeugt, dass sie ohne kritisches Engagement schlechter wäre. Parin hat einmal – frei nach Adorno – geschrieben: „Weil ich die Arroganz der Macht nicht entlarven und brechen kann, will ich sie in ihrem Negativen, den Schäden und Niederlagen, die sie bereitet, erkennen, was immerhin Hoffnung stiftet auf ihren Sturz.“ Das Trio Goldy, Fortunato und Fritz hat das Unbewusste aufgerührt. „Unsere Begriffe sind in die Weltliteratur eingegangen“, sinniert Paul Parin und hält inne. Für einen sehr langen Moment …

(Fortsetzung des Berichts vom Besuch bei Paul Parin im nächsten taz.mag: dann über die wilden Sechziger, das Dasein als ‚Fuchs‘ und die Tragödien auf dem Balkan)

MARKUS VÖLKER, 35, Sportredakteur der taz, studierte Psychologie in Jena und Wien: „An normalen Psychologie-Instituten hatte und hat es Psychoanalytisches schwer. Ärgerlich!“