Operation Arktis

GEGENMACHT Greenpeace ist längst zum Bewegungskonzern geworden. Jetzt kämpft er mit Hunderten Mitarbeitern für die Freilassung von 30 Aktivisten, die in Russland im Gefängnis sitzen. Es geht auch darum, wer stärker ist: eine radikale Idee – oder ein autoritärer Staat

■ Das Schlauchboot: Kaum ein Symbol lässt Greenpeace klarer als den kleinen David erscheinen, der die Goliaths dieser Weltmeere angreift, als die roten, orange oder grauen Boote. Sie werden je nach Einsatzgebiet ausgewählt. In Deutschland etwa: Binnengewässer, Küste oder Offshore. In Russland war unter anderem eine 6,4 Meter lange Searider der Marke Avon, von Greenpeace „Mermaid“ getauft, im Einsatz. Und eine M & R Ribsea 750, genannt „Suzy Q“.

■ Die Schiffe: Neben „Esperanza“ oder „Rainbow Warrior III“ (32 Kabinen, Kräne für 4 Schlauchboote, Helikopterlandeplatz) zählt auch die „Arctic Sunrise“, gebaut 1974, zur Greenpeace-Flotte. Auf ihr wurden die Aktivisten festgesetzt.

■ Auf taz.de: Wie die „Arctic 30“ um die Welt gingen. Eine Bildstrecke unter: taz.de/arktiskampagne

AUS AMSTERDAM UND HAMBURG MARTIN KAUL

Kumi Naidoo manövriert seinen kleinen Motorroller, eine angekratzte, schwarze 50er-Piaggio, durch den Schutt. Seine Füße versinken im Sand, seine graue Seidenhose zerknittert, fast fällt er hin. Naidoo ist zu spät.

Überall Dreck im Weg, Schutthaufen, die markigen Reifenprofile von Planierraupen zeichnen den gräulichen Sand. Ottho Heldringstraat 5, Amsterdam. Neben der Baustelle liegt die Zentrale einer der mächtigsten Nichtregierungsorganisationen: Greenpeace International.

Naidoo hetzt das Treppenhaus hinauf. „Wo ist das Foto-Shooting?“ „Oben“, ruft ihm jemand zu. Weiter, auf das Flachdach. 102 Kolleginnen und Kollegen stehen auf verwitterten Teerplatten und warten schon. Naidoo ist der Einzige, der noch fehlt. Sie haben ihrem Chef einen Platz in der Mitte freigehalten.

Der Mann mit dem gepflegten Dreitagebart, Geburtsort Durban, Südafrika, zieht sich schnell einen grünen Kapuzenpullover über, dann ballt er seine Hände zu Fäusten und hält sie in die Höhe. Der Fotograf drückt auf den Auslöser. Alle sollen nach oben schauen.

Eine Kollegin hat einen Plüscheisbären im Arm, eine Frau hat ihre kleine Tochter mitgebracht.

Noch ein Foto.

Die Leute von Greenpeace halten Schilder in die Luft: #FreeTheArctic30.

Fotos fertig.

Kumi Naidoo, 48, ist der Chef von Greenpeace International und Person Nummer 103 auf diesem Bild. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um ihn herum bilden das Herzstück einer globalen politischen Kampagne, die seit gut fünf Wochen läuft. An ihrem Erfolg wird sich womöglich eine entscheidende Frage beantworten lassen. Was ist stärker: eine radikale Idee oder ein autoritärer Staat?

„Greenpeace arbeitet zurzeit rund um die Uhr“, sagt Kumi Naidoo.

Greenpeace kämpft jetzt gegen Russland.

19. September 2013. Spezialeinheiten des russischen Inlandsgeheimdienstes nähern sich der „Arctic Sunrise“. Sie feuern Warnschüsse ab und übernehmen das Kommando des Schiffes. Die Besatzung, 28 Aktivisten und zwei Journalisten, werden in die Hafenstadt Murmansk gebracht. Die russische Justiz wirft ihnen „bandenmäßige Piraterie“ vor. Es drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. Die Aktivisten hatten zuvor mit einer Kletteraktion an Gazproms Ölplattform „Priraslomnaja“ protestiert. Das Unternehmen plant, Ölschätze in der Arktis zu bergen. Greenpeace kritisiert, dass damit eines der letzten unangetasteten Ökosysteme der Erde wirtschaftlich erschlossen werde – ohne dass es für den Fall einer Havarie ausreichende Sicherheitsmaßnahmen gebe.

Greenpeace ist eine Organisation – und eine Geschichte. Die Geschichte von radikalem, gewaltfreiem Ungehorsam, von weltweiten Interventionen und von einer Betriebskultur, die beschaffen ist, als hätte sie von globalen Konzernen wie Google oder ExxonMobil gelernt.

Am Magdeburger Hafen in Hamburg hat Greenpeace Deutschland – ein eingetragener Verein, gemeinnützig, 198 Mitarbeiter, 4.500 Ehrenamtliche – gerade erst einen ansehnlichen Neubau bezogen. Das Atrium ist hell durchleuchtet, in der Mitte steht der Steuerstand der „Beluga“, eines ausrangierten Schiffs der Organisation, mit dem die Aktivisten Protestaktionen auf Deutschlands Flüssen verbinden. Drei Windkraftanlagen stehen auf dem Dach des Neubaus, 420 Quadratmeter Photovoltaik produzieren Strom für die Pumpen, die mit Wärme aus dem Erdreich das Hochhaus heizen. Auf den Klos gibt es kein warmes Wasser, um nicht unnötig Energie zu produzieren. Alles ist durchdacht, öko, tipptopp.

Im Atrium steht auch ein sechs Meter hoher Totempfahl, geschnitzt aus einer 600 Jahre alten kanadischen Rotzeder. Zwei Stammeshäuptlinge der Nuxalk-Indianer haben ihn Greenpeace überreicht, als Zeichen der Verbundenheit. Der Totempfahl soll erzählen, wofür Greenpeace kämpft: Es geht um den Erhalt der Lebensgrundlagen. Rettet den Regenwald, rettet die Wale. Und jetzt: Rettet die Arktis.

Es gibt in Hamburg ein anderes Detail, das weniger auffällt, aber fast noch besser illustriert, wie Greenpeace für diese Ziele kämpft: den Bildschirmschoner. Egal, ob in der Abteilung Recherche, Raum 2.06, oder bei der schnellen Eingreiftruppe, genannt „Task Force“, ein Stockwerk höher – wenn die Mitarbeiter von Greenpeace an ihren Rechnern sitzen und kurz Pause machen, erscheint allen derselbe Bildschirmschoner. Er zeigt Fotos auf grellgelbem Hintergrund. Aktivisten angekettet an Schienen, abgeseilt von Brücken, in Rettungswesten auf Booten. Eine Botschaft an die Belegschaft: Während du hier am Schreibtisch sitzt, sind unsere Leute draußen an der Front. Die Fotoredaktion in Raum 2.08 bestückt diese Bildschirmschoner ständig aktuell. Kommunikation ist alles.

Aus der Gruppe von Aktivisten, die im September 1971 mit einem Fischkutter namens „Greenpeace“ vor der Küste von Alaska gegen unterirdische Atomtests protestierte, ist so etwas wie ein globaler Bewegungskonzern geworden. Es ist ein Konzern mit vielen Eigenarten, verfasst, je nach Land, nach dem Vereinsrecht, dem Stiftungsrecht. Seine Rendite misst sich nicht in Geld, sondern in der Anzahl der Umweltkatastrophen, die seine Aktivistinnen vielleicht verhindert haben. Dieser Konzern macht auf basisdemokratisch. Alle dürfen mitmachen.

Inzwischen haben mehr als 1,5 Millionen Menschen einen Aufruf an die russische Regierung unterschrieben. Zehntausende gingen in Dutzenden Ländern auf die Straße. Auch in vielen deutschen Städten versammelten sich Basisgruppen zu Solidaritätsbekundungen und Spontanprotesten. Greenpeace ist ein Konzern, bei dem die Mitarbeiter das Sagen haben.

Aber wie weit kann, wie weit darf ein internationaler Umweltrettungskonzern gehen, wenn er andere globale Konzerne angreift – und dabei immer scharf am Rande des Rechts operiert? Mit wie viel staatlicher Repression muss er rechnen, wie viel hält er aus? Welchem Risiko darf er seine Leute aussetzen?

„Wir sind nicht naiv“, sagt Kumi Naidoo, der Direktor. „Greenpeace hat schon immer Aktionen in russischen Gewässern gemacht. Noch nie haben russische Behörden so reagiert.“

4. Oktober 2013. Die niederländische Regierung kündigt rechtliche Schritte an. Sie verlangt die sofortige Freilassung der Inhaftierten und die Herausgabe des Schiffes, das unter niederländischer Flagge fährt, und droht, vor den Seegerichtshof in Hamburg zu ziehen. Dessen Anhörung beginnt am 6. November.

Wenn Mike Townsley so langsam handeln würde, wie er redet, wäre er der Falsche für seinen Job. Townsley ist ein Mann mit grauen Haaren, prallen Oberarmen und einem verdammt harten schottischen Akzent. Er gehört in diesen Wochen zu den mächtigsten Menschen bei Greenpeace, deshalb ist er zurzeit in Amsterdam stationiert, im Hauptquartier. Sonst wohnt er in Mexiko-Stadt. Er arbeitet in einer kleinen Einheit mit der Abkürzung CMT: Crisis Management Team. Eine Handvoll Leute, speziell ausgebildet. Eine Art Eliteeinheit bei Greenpeace International, Bereitschaftsdienst rund um die Uhr. „Es müssen wenige sein, sonst geht die Kontrolle verloren“, sagt Townsley.

Er sitzt an einem ovalen, braunen Konferenztisch in einem Besprechungsraum der Greenpeace-Zentrale. An der Wand hängt eine riesige Weltkarte. Es gibt bei Greenpeace überall Weltkarten. An den Wänden, auf den Böden, an den Decken.

Er zeichnet die Worte auf: High Global Priority

Townsleys Stirn liegt in Falten. Er trägt einen silbernen Armreif, einen Silberring am Finger und ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Ein drahtiger Mann, der in sich ruht. Jetzt nimmt er einen Stift und ein Blatt Papier und schreibt darauf in langsamen Zügen und klaren Lettern sieben Worte. Es dauert eine Ewigkeit. Dann steht dort: ARCTIC RESPONSE – GLOBAL CAMPAIGN – HIGH GLOBAL PRIORITY.

Für die letzten drei Worte braucht er am längsten. Es sind die wichtigsten: Hohe globale Priorität. Das heißt: Ganz Greenpeace konzentriert sich jetzt nur auf diese eine Kampagne. Ganz Greenpeace: 2.400 Mitarbeiter weltweit, Büros in 28 Ländern, dazu Tausende Ehrenamtliche, die Zehntausenden auf den Straßen und die Hunderttausenden im Netz. Man könnte es „Operation Gefangenenbefreiung“ nennen.

Geht es nach Greenpeace, kommt dieser Aspekt aber immer erst an zweiter Stelle. Der erste Satz muss heißen: „Rettet die Arktis.“ Erst als zweiter folgt dann: „Lasst unsere Aktivisten frei.“ Die Reihenfolge ist wichtig. Wenn Kumi Naidoo über die Sache redet, dann redet er zuerst von der Arktis und dann von den Gefangenen. Wenn Greenpeace auf Facebook Forderungen postet, dann meist in dieser Reihenfolge. Und wenn irgendwo zwei Transparente hängen, steht der erste Satz auf dem linken und der zweite auf dem rechten. An sehr vielen Orten der Welt hängen diese zwei Transparente gerade nebeneinander. Erst die Arktis, dann die Gefangenen. Überall. Kommunikation ist alles.

Deswegen haben sie Mike Townsley eingeflogen. „In einer Krise wie dieser ändert sich die Rolle der Führung“, sagt er. „Es gibt in dieser Situation einen einfachen Satz: Führe, folge – oder gehe aus dem Weg.“ Das ist kein einfacher Satz für eine Organisation, die sich immer auch als Bewegung verkauft. Es ist kein neuer Konflikt. Bereits in den 80er-Jahren spaltete sich die Organisation Robin Wood von Greenpeace ab. Zu undemokratisch seien die Strukturen, zu elitär.

Vielleicht ist das gerade das Radikale an der Idee von Greenpeace: Ihre Legitimation bezieht die Organisation aus etwas Übernatürlichem, aus einem höheren Gebot. Greenpeace, das ist so etwas wie ein eherner Ritter der Schöpfung. Zehntausende Menschen weltweit gestehen der Organisation diese Legitimation zu.

Aber steht Greenpeace deshalb über dem Gesetz – über dem russischen Gesetz?

9. Oktober 2013. Die russische Justiz gibt bekannt, dass den Greenpeace-Aktivisten neben „bandenmäßiger Piraterie“ weitere „schwere Verbrechen“ zur Last gelegt werden. Auf dem Schiff seien Drogen gefunden worden. Damit droht eine weitaus höhere Strafe. Greenpeace weist den Vorwurf zurück. Ein Gericht in Murmansk lehnt die Haftprüfungsanträge ab.

„Unsere Aktivisten stehen nicht über dem Recht“, sagt Kumi Naidoo. „Und wenn sie das Recht brechen, dann stehen sie dazu. Aber sie wollen verhältnismäßig behandelt werden. Was ihnen in Russland vorgeworfen wird, ist eine Farce.“

Im Internet kursiert der Mitschnitt einer russischen TV-Sendung. Darin wird Naidoo von einer Moderatorin befragt. Erst reden die beiden, irgendwann schreien sie sich an. Der Clip dokumentiert das Unverständnis, mit dem viele in Russland auf Greenpeace blicken. Darin zu sehen ist auch eine Szene, die viel Raum für Interpretationen lässt: Ein Schlauchboot von Greenpeace rammt ein Boot der russischen Küstenwache. War das nur eine Welle, die das Schlauchboot gegen das Polizeiboot geworfen hat? Das sagt Kumi Naidoo. Oder war es eine Attacke, ein Motorschub, aus dem sich der Vorwurf der Piraterie ableiten lässt?

Die Moderatorin regt sich auf: Wieso will eigentlich alle Welt, dass ausgerechnet Wladimir Putin sich nun einmischt? Verlangen nicht gerade die westlichen Stimmen stets, dass die russische Justiz endlich unabhängiger wird?

In russischen Medienberichten werden die Aktivisten von Greenpeace mit der palästinensischen Hamas verglichen. Umfragen zeigen, dass die russische Bevölkerung kein Verständnis für die Aktivisten hat. Das erschwert den Kampf.

In Murmansk, wo am Hafen an Pier Nummer 16 die „Arctic Sunrise“ liegt, versammeln sich jeden Morgen Unterstützer vor der Haftanstalt, um Obst und Kekse ins Gefängnis zu bringen. Der Schweizer Zimmermann Mark Weber, die junge argentinische Fotografin Camila Speziale, die finnische Aktivistin Sini Saarela sind drei der Gesichter, die man weltweit auf den Postern der Aktivisten sehen kann und die sich, vielleicht, über diese Kekse freuen. Wie es ihnen und den anderen geht, ist schwer zu sagen. Nur Anwälte und Diplomaten dürfen mit ihnen sprechen. Auf Greenpeace-Fotos lachen sie meist. Sie geben der Kampagne ein Gesicht. Das ist das Paradoxe: Je stärker Greenpeace-Aktivisten bedroht sind, desto schlagkräftiger wird diese Kampagne.

16. Oktober 2013. Die deutsche Bundeskanzlerin telefoniert mit Russlands Staatspräsident Wladimir Putin. Sie hoffe, dass es bald zu einer Lösung in dem Fall komme.

Im Großraumbüro von Amsterdam, wo das Klackern der Tastaturen den Rhythmus der Geschäftigkeit untermalt, sucht sich Townsley, der Krisenmanager aus Mexiko-Stadt, jeden Morgen einen freien Schreibtisch. Townsley und sein Team können mit einem kleinen Protokoll eine Maschine in Gang setzen, die binnen weniger Stunden Kampagnenbotschaften in Dutzenden Sprachen rund um den Globus verbreitet. Eines dieser Protokolle ist mit dem Schlagwort „Rapid Response“ überschrieben. Es befasst sich mit den Reaktionen von Greenpeace auf unvorhergesehene Ereignisse.

Es ist Townsleys Auftrag, die meisten dieser unvorhersehbaren Ereignisse vorherzusehen. Es gibt Pläne etwa für den Fall, dass Aktivisten von einer Ölplattform fallen. Dass sie sich bei Kletteraktionen verletzen oder bei einer Protestaktion sterben. Im Protokoll ist nachzulesen, wer was zu tun hat. Welches Land, welche Einheit, welcher Mensch. Dass Greenpeace-Aktivisten in Russland wegen bandenmäßiger Piraterie in Gefangenschaft geraten können, hatte niemand vorhergesehen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Rapid-Response-Protokollen und Krisenprotokollen. „Was wir derzeit erleben, ist ein Kontrollverlust. Ein Kontrollverlust ist eine Krise“, sagt Townsley. „Wir haben unser Krisenmanagement sehr schnell initialisiert.“ Wann sprang die Greenpeace-Maschine an? Drei Stunden nach den Festnahmen der Aktivisten? Vier Stunden?

„Schneller“, sagt Townsley.

Greenpeace hat Staaten und Unternehmen schon immer gereizt, bis manche sich brutal gewehrt haben. Im Jahr 2010 schießen französische Thunfischjäger auf einen Aktivisten. 2008 nehmen japanische Walfangschiffe ein Greenpeace-Schlauchboot in die Zange. 2005 werfen Wachmänner eines Kohlekraftwerks auf den Philippinen mit Steinen auf Aktivistinnen und verletzen sie schwer. Der tragischste Vorfall liegt länger zurück: Im Juli 1985 sprengt der französische Geheimdienst die „Rainbow Warrior“ und versenkt das Schiff. Mit dem Boot wollte Greenpeace im Südpazifik gegen Atomtests vorgehen. Ein Fotograf stirbt.

Bald dreißig Jahre später ist Greenpeace eine andere Organisation. Sie betreibt Forschung, erhebt Daten. Genährt von den Geldern ihrer Förderer und Mitglieder umspannt das Greenpeace-Netz die Erde. Die Kampagnen können eine ungeheure Wucht entfalten. Die einfache und doch radikale Idee ist geblieben: Greenpeace begeht Rechtsverstöße und beruft sich dabei auf höheres Recht.

In Hamburg fönen sechs Männer den Slogan

Die Aktivisten sagen: Wenn dadurch Unrecht verhindert wird, dann geht ein gewaltfreier Hausfriedensbruch, eine Firmenbesetzung, eine Nötigung durchaus in Ordnung. Das ist das Gandhi-Prinzip.

„Ich bezweifle, dass Sie eine Greenpeace-Homepage finden, auf der unsere aktuellen Kampagnen-Botschaften derzeit nicht ganz oben stehen. Wenn doch, sagen Sie es mir. Dann gilt das in einigen Minuten nicht mehr.“

Kanadische Aktivisten stechen mit dem Fischkutter „Greenpeace“ in See, um die unterirdischen Atomtests der USA vor Alaska zu stoppen

Zwei Dutzend regionale und nationale Greenpeace-Gruppen werden unter einem Dach vereint. Die Organisation verlegt ihr Hauptquartier nach Europa

Greenpeace kämpft gegen Atomtests im Südpazifik. Französische Agenten versenken die „Rainbow Warrior“. Der Fotograf Fernando Pereira wird getötet

Protest vor dem DDR-Umweltministerium gegen die Einleitung von Salz aus dem Kalibergbau in die Werra. Die Volkspolizei beendet die Aktion Minuten später

Greenpeace protestiert mit dem Stamm der Nuxalk gegen den Kahlschlag in kanadischen Regenwäldern. Einige Teilnehmer müssen für mehrere Wochen ins Gefängnis

Aktivisten stürmen eine Gazprom-Bohrinsel in der Arktis. Sie werden mit kaltem Wasser überschüttet und mit Metallteilen beworfen

Townsley klingt fast, als wäre er beim Militär. Es fällt ihm selbst auf. Er will das eigentlich nicht. Greenpeace, das sind doch die Gewaltfreien.

Der Mann redet wie ein kluger Stratege. Wie einer aus der zweiten Reihe, nicht der, der das Wort führt, sondern der, der den Plan hat. Und das ist der Plan, die Kartografie der Kampagne: Murmansk betreut die Gefangenen, Buenos Aires kümmert sich um die weltweite Mobilisierung, London bietet inhaltliche Expertise, Hamburg stellt Logistik und Recherche, in Amsterdam laufen die Fäden zusammen. Die Greenpeace-Weltkarte ist aufgeteilt. Jedes Land macht, was es am besten kann. Dann gibt es noch Spezialisten, die sich zum Beispiel um Prominente kümmern.

17. Oktober 2013. Elf Friedensnobelpreisträger wenden sich in einem Brief an die Öffentlichkeit. Sie verlangen, Putin solle sich dafür einsetzen, dass die Ankläger den „übertriebenen Vorwurf der Piraterie“ fallen ließen.

Sechs junge Männer stehen aufrecht an der langen, gelben Stoffbanderole. Jeder von ihnen hält einen Fön in der Hand. Manche fönen ehrenamtlich, andere sind Honorarkräfte. Sie fönen die frische Farbe trocken. Sie fönen das Greenpeace-Logo, sie fönen die Botschaft: Rettet die Arktis. Lasst unsere Aktivisten frei. Hier in Hamburg-Wilhelmsburg betreibt Greenpeace Deutschland sein großes Logistiklager. Hier werden Transparente hergestellt und verschickt.

In Amsterdam schwärmen sie von diesem Lager. Profis, die Deutschen.

In einem Raum hängt Kletterausrüstung in 25 Reihen. Oben die Handsteigklemmen, darunter die Bruststeigklemmen, Abseilgeräte, Karabiner und Klettergurte. In einer großen Halle sind Klapptischgarnituren in Industrieregalen gestapelt, daneben Regenanzüge, Floater, Schwimmwesten nach Größen sortiert. Auf einem Schild steht: „Hier nur olle gelbe Jacken. Nicht für Aktionen.“ Auch die Eisbärenattrappe „Paula“ hat einen Platz im Hangar. Zwei Menschen passen in Paula hinein. Greenpeace-Gruppen können Paula ausleihen und damit durch Fußgängerzonen laufen. Paula sieht täuschend echt aus. In der großen Lagerhalle kämmen gerade drei Frauen Paulas Fell.

21. Oktober 2013. Die Niederlande reichen einen Antrag auf vorläufige Entscheidung beim internationalen Seegerichtshof in Hamburg ein.

Hongkongstraße 10, Greenpeace Deutschland, Raum 2.06, Abteilung Recherche. Oliver Worm ist gerade erst eingezogen. Sein Zimmer sieht schon so gemütlich aus, als arbeite er hier seit Jahrzehnten. Ein warmer Teppich, viele Bücher, ein Bild von Mahatma Gandhi steht noch auf dem Boden. Oliver Worm ist Chemiker, 54 Jahre alt, ein freundlicher, zurückhaltender Mann im braunen Polohemd. Er hat alles andere liegen lassen. Derzeit recherchiert er nur zu einem Thema: Gazprom.

Greenpeace weiß: Wenn sie Wladimir Putin, den russischen Präsidenten, direkt angreifen, bringt das den Gefangenen im schlimmsten Fall gar nichts. Es ist deshalb gut, wenn Wladimir Putin eine Ausstiegsoption hat. Er muss vom Feind zum Retter werden können. Der Gegner muss also Gazprom heißen.

Keine Kampagne beginnt ohne eine gründliche Recherche. Das Konzept heißt „IDEAL“. Investigate. Document. Expose. Act. Lobby. Bevor Greenpeace von Gazprom sprach, haben seine Rechercheure den Konzern durchleuchtet.

„Wir können es uns nicht leisten, dass unsere Faktenbasis nicht stimmt“, sagt Oliver Worm. Er wühlt sich durch Firmenstrukturen, entwirrt Wirtschaftsgeflechte, ergründet Beteiligungsmodelle und spürt Kooperationspartner auf. Wo haben diese Firmen ihren Sitz? Jede Information kann ein Ansatzpunkt sein. Vielleicht für ein nettes Gespräch, vielleicht aber auch für eine neue Aktion.

22. Oktober 2013. Russland teilt mit, „dass es die Verfahrensprozedur wegen des Schiffs ‚Arctic Sunrise‘ nicht anerkennt, und auch nicht vorhat, an den Verhandlungen vor dem Seegerichtshof teilzunehmen“.

Der Fototermin ist vorbei. Kumi Naidoo hat seinen Kapuzenpulli wieder ausgezogen, er trägt ein lila gestreiftes Hemd. Naidoo ist seit 2009 Direktor von Greenpeace. Früher kämpfte er in Südafrika gegen das Apartheidregime. Er ging deshalb 1986 ins Gefängnis und 1987 ins Exil. Vor einem Jahr seilte sich Naidoo selbst von der Gazprom-Plattform ab. Nichts passierte.

Heute redet er täglich mit Diplomaten. Mit Politikern, Botschaftern und Außenministern. Menschen aus 18 Nationen waren an Bord des Schiffes. Es gibt viele Länder, die an der Seite von Greenpeace kämpfen. „Man erleichtert Diplomatie nicht, wenn man laut darüber spricht“, sagt Kumi Naidoo. „Aber Sie können davon ausgehen, dass hinter den Kulissen viele Gespräche geführt werden.“

23. Oktober 2013. Die russische Justiz schwächt die Anklage ab. Den Aktivisten und Aktivistinnen solle nun nicht mehr wegen „bandenmäßiger Piraterie“, sondern wegen „Rowdytums“ der Prozess gemacht werden

Es ist nur ein Foto, in dessen Mitte Kumi Naidoo zu sehen ist, 102 Leute um ihn herum. Greenpeace-Aktivisten auf der ganzen Welt werden an diesem Tag Hunderte Bilder machen und online stellen. Unterstützer in einem Reisfeld in Bali, vor einem Palast in Seoul, vor dem Mount Everest. Alle haben die gleiche Botschaft: #FreeTheArctic30.

Das Krisenprotokoll greift. Russland hat sich bewegt, vorsichtig. Mike Townsley plant die nächsten Schritte.

Martin Kaul, 31, ist taz-Redakteur für soziale Bewegungen. Er lehnte ab, als die PR-Abteilung von Greenpeace Deutschland ihm während der Recherche anbot, auch mal ein bisschen Schlauchboot zu fahren