Gegen den Schauer der Ewigkeit

JIM AVIGNON ÜBERMALT SICH

Avignons Übermal- aktion ist auch Ausdruck der gegenwärtigen Remix-Kultur

Die Kunst – ewig soll sie sein. An ihrem Anfang steht ein Pferd. In der Höhle von Lascaux in Frankreich ist es zu sehen, wenige Striche, ein brauner Fleck. Aber unzweifelhaft ein Pferd. Und jetzt stellen Sie sich doch bitte mal die Szene vor, wenn nun der Künstler in die Höhle spaziert käme und einfach sein altes Werk überpinselte – mit der Auskunft, er könne jetzt halt ein viel schöneres Pferd malen. Was das für ein Geschrei gäbe.

Aber genau das ist jetzt passiert in Berlin. Am Wochenende hat der Pop-Art-Künstler Jim Avignon sein Bild auf der East Side Gallery übermalt. Über die Presse ließ er mitteilen, er hänge halt einfach nicht mehr an seinem alten Mauerbild. Und: „Ich habe mich als Künstler weiterentwickelt.“ Gleich war das Geschrei groß. Wenigstens im Kreis von Avignons Kollegen, die damals, 1990, mit ihm die Mauer bemalten, hält man nichts von diesem Angriff auf die Vergangenheit und ist doch der Meinung, dass da einer ein Stück ewiges Kulturgut der Menschheit zuschanden gemacht hat.

Tatsächlich ist die East Side Gallery denkmalgeschützt und damit prinzipiell als erhaltenswert für kommende Zeiten eingeschätzt. Was bei so einem Stück Mauerwerk, allen Angriffen – Wind, Wetter und sich hier gern mit ihren Signaturen verewigen wollenden Touristen – frei ausgesetzt, bereits heute kommende Restauratorengenerationen mit Grausen erfüllt.

Die aktuelle Angelegenheit wird von den örtlichen Denkmalschützern noch geprüft. Urheberrecht, Denkmalschutz, Nutzungsrechte und so weiter … die Sache ist kompliziert.

Jedenfalls muss man die Übermalaktion von Avignon wohl auch aus Ausdruck der gegenwärtigen Remix-Kultur sehen, in der man gern alte Ansätze immer neu arrangiert, sie verändert, sie selbst zur weiteren Verarbeitung in andere Hände gibt und überhaupt ein Misstrauen gegen das einzelne, abgeschlossene Werk hegt. Wichtiger scheinen Arbeitszusammenhänge. Was das einzelne „Werk“ dann auch kleiner macht, vor dem man gar nicht mehr in Ehrfurcht erschauern will. Heißt: Das Leben geht immer weiter, und es ist schon auch an der Kunst, dabei Schritt zu halten.

Jim Avignon, selbst Teil dieser Kultur, kennt sich damit aus.

Das große Geschrei in der Höhle von Lascaux, das hätte es natürlich nur deswegen gegeben, weil dann da ja plötzlich ein quicklebendiger Mensch aus der Steinzeit vor einem gestanden hätte und damit auf ein Alter von so ungefähr 20.000 Jahren hätte verweisen können. Das aber wäre wirklich mal spektakulär.

THOMAS MAUCH