Mensch, nun wehr dich doch

Bernd Mottl hat das Musical „Held Müller“ von Peter Lund und Thomas Zaufke für die Neuköllner Oper eingerichtet

Jetzt, da er mit Orden, Blumen und Schärpe als Held gefeiert wird, müsste endlich die Gelegenheit sein. Denkt Herwig Müller und setzt zum Reden an. Aber da ist das Stück schon aus, sind Scheinwerfer schlagartig dunkel, und Herwig Müller ist mal wieder nicht zu Wort gekommen. Bis zuletzt wird er stumm bleiben in „Held Müller“, diesem „deutschen Musical“.

Herwig Müller, der Stellvertreter der schweigenden Mehrheit. Einer, den man immer übersieht, den niemand wirklich ernst nimmt, der sich still und verlässlich um die Familie kümmert und 35 Jahre seiner Firma ergeben diente. Vor allem aber: Der nie aufbegehrt. Auch nicht, als ihn sein Automobilkonzern zusammen mit 6.000 anderen Mitarbeitern trotz höchster Dividende feuert. Die Aktienkurse sind wichtiger als menschliche Schicksale. Peter Lund hat mit diesem Müller eine wahrhaft tragische Figur geschaffen. Denn erst durch eine Kette von Zufällen und Verwicklungen wird Herwig Müller (stumm und stoisch: Eckhart Strehle) von seinen Mitmenschen wahr- und ernst genommen. Oder besser: als Spielball der jeweiligen Selbstdarstellung benutzt. Weil bei der Präsentation eines neuen Prototyps das Auto und der Konzernchef in die Luft fliegen, steht Müller plötzlich als vermeintlicher Attentäter dar.

Nun gehen auch andernorts Bomben hoch, und Bekennerschreiben gibt’s gleich im Dutzend. Die Fernsehmoderatorin Sabrina van Dreesen (Doris Prilop) glaubt bereits den Grimme-Preis in ihren Händen. Müllers altkommunistischer Kollege (Ulrich Wiggers) sieht endlich die wahre Revolution aufziehen, er weiß bloß nicht so recht, wohin die denn gehen soll. Und Müllers arbeitsloser beziehungsweise arbeitsverweigernder Sohn (Gerd Lukas Storzer) hegt die Hoffnung, dank Vaters Großtat auch künftig ein Leben in der sozialen Hängematte verbringen zu können.

Dass Peter Lund ein Händchen hat, die Themen auf der Straße aufzulesen, den Alltag einzufangen und zu pointierten, vor allem aber zu unterhaltsamen Stücken zu verarbeiten, hat er bereits mit „Die Krötzkes“, „Das Wunder von Neukölln“ und „Erwin Kannes – Trost der Frauen“ bewiesen. Sein neues Werk ist eine Gratwanderung: Denn die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit der Massen, die Politikverdrossenheit und aufgestaute Wut nimmt Lund sehr ernst. Tatsächlich wagt er sogar – im Rahmen der Möglichkeiten eines Musicals – die Zusammenhänge von Arbeit und Kapital, die Abhängigkeiten von TV-Moderatoren von Produzenten und Fernsehintendanten, das Wechselspiel von internationalem Markt und nationalen Interessen zu diskutieren. Und weil Lund zugleich immer auch an die Unterhaltung denkt, kommt dabei keine trockene Theoriedebatte heraus, sondern es entstehen griffige Figuren, die den Zuschauer durch eine alles andere als vorhersehbare Handlung begleiten. Bernd Mottl hat das Libretto ganz in diesem Sinne in Szene gesetzt: Ob Konzernchef oder treu sorgende Mutter – Lunds Figuren sind idealtypische, auf schnelle Erkennbarkeit angelegte Charaktere, die auf diese Weise kabarettistisch-satirische Komik, aber auch tragische Tiefe erlangen dürfen.

So fetzt denn auch Thomas Zaufkes Musik mit Broadway-typischem Schmiss, und die verquere „Wir sind Deutschland“-Kampagne wird in einem sich pathetisch aufbäumenden Gruppensong persifliert. Keine Frage, „Held Müller“ ist ein ausgesprochen aktuelles und wahrhaft „deutsches Musical“. Und garantiert ein Hit. Deshalb wird es nach der Spielzeit in der Neuköllner Oper denn auch siegesgewiss im August in dem bis dahin neu eröffneten Admiralspalast auf die große Bühne gepackt.

AXEL SCHOCK

„Held Müller“, Neuköllner Oper, 3., 5.–7, 10.–14., 17–21., 24., 25., 28., 30. und 31. Mai, jeweils 20 Uhr