Tanz mit Geschichte

KÖRPER Die Choreografen Adam Linder und Olga de Soto lassen sich beide von alten Meistern des Balletts inspirieren – und bringen im Hebbel am Ufer am Ende ganz unterschiedliche Stücke auf die Bühne

Eine beschämend miserable Qualität von Bild, Ton und Schnitt

VON FRANZISKA BUHRE

Als im vergangenen Jahr in der Zweigstelle des Centre Pompidou in Metz Pablo Picassos Bühnenvorhang für das Ballett „Parade“ von 1917 erstmals seit zwei Dekaden wieder öffentlich gezeigt wurde, war die Begeisterung in aller Welt groß: Der Anblick der farbenfrohen Jahrmarktszene auf der gigantischen Fläche von 170 Quadratmetern machte deutlich, wie fern das damalige Bühnenwerk heutigen Zuschauern eigentlich ist. Die Inszenierung regte auch den in Berlin lebenden australischen Choreografen Adam Linder an, sich der historischen Zusammenarbeit des Malers mit Jean Cocteau (Libretto), Erik Satie (Musik) und Léonide Massine (Choreografie) noch einmal zu widmen: Am Wochenende zeigte er im HAU 3 einer neue Lesart des Balletts mit vergleichsweise reduzierten, aber umso wirkungsvolleren Mitteln.

Aus dem schon damals doppelbödigen Abgesang auf die Narrenfreiheit der Darstellungskunst schält Linder das Prinzip des Einheizers heraus, der die Reizüberflutung seines Publikums nur spiegelt. Zwei Tänzerinnen und Linder nehmen sich sprichwörtlich selbst die Parade ab und vollführen erst zu dritt, dann nacheinander einen skurrilen Reigen aus abenteuerlich montierten Versatzstücken an Bewegungen. Da dürfen gesittete Pferdchensprünge und elegant scharrende Hufe in der Manege nicht fehlen, ebenso wenig die übersteigerte Gestik, mit der Delphine Gaborit jede neue Runde anzeigt.

Kotomi Nishiwaki exerziert eine zum Leben erweckte Gliederpuppe, Linder empfängt von Zirkusgottes Gnaden Anweisungen aus dem Off, wie er sich gefügig zu bewegen hat – und sucht die Arena darum mit einem Tanz zu erobern. Zwei leuchtend grüne, geometrische Körper (genauer: ein Dodekaeder und ein Ikosaeder) halten die Performer ihrer geradezu obszönen Ebenmäßigkeit wegen auf Trab, die traumschönen Kostümgerüste aus Weidengeflecht von Tobias Kaspar zieren und entblößen die schwarz gewandeten Körper zugleich.

Ausgebuffte Narretei

Kongeniale Partner des Trios sind Shahryar Nashat mit seinem Bühnenbild und Brendan Dougherty mit seiner Musik: Zwischen der grau melierten Rückwand mit zwei Verschlägen für Auftritte und Verschwinden strahlt die offene grüne Box, die nie betreten wird, Dougherty collagiert Saties Original exzellent mit elektronischen Klängen. Für die ausgebuffte Narretei bekam Linder keine Förderung des von der Bundeskulturstiftung 2012 eingerichteten Tanzfonds Erbe, vielleicht weil dieser „Parade“ nicht zum „kulturellen Erbe des Tanzes in Deutschland“ zählte.

Anders eine Aufführung der Choreografin Olga de Soto: Sie hat mithilfe der Gelder das Stück „Débords. Reflections on The Green Table“ eingerichtet, das ebenfalls am Wochenende im HAU 2 zu sehen war. Die Spanierin bezieht sich auf die 1932 von Kurt Jooss geschaffene Choreografie „Der Grüne Tisch“, die seither als Meilenstein der Tanzgeschichte gilt. De Soto ist durch ganz Europa und bis nach Chile gereist, um ehemalige Tänzer des Balletts und Zeitzeugen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg als Zuschauer gesehen hatten, zu befragen.

Ausschnitte der Videointerviews erscheinen in der Aufführung auf schmalen Leinwänden, die von echten Tänzern und Choreografen im Bühnenraum hoch- und runtergezogen, hin und her geschwungen oder auf mobilen Flächen bedeutungsschwanger von ihnen in den Händen gehalten werden (Techniker hätten diese Aufgaben besser erledigt).

Allein die Tänzersenioren können der beschämend miserablen Qualität von Bild, Ton und Schnitt ihre Geschichten entgegensetzen. Allen voran die heute 94-jährige Ann Hutchinson Guest, die, kerzengerade sitzend, mit einem Lachen erzählt, wie sie als junge Frau in Devon, Kurt Jooss’ Exil in England, von ihm persönlich den Auftrag erhielt, den „Grünen Tisch“ in Tanzschrift niederzuschreiben, gegen Kost, Logis und „15 Schilling die Woche“. Oder der spanisch sprechende Tscheche (war er Tänzer, war er Zuschauer?), der drei Okkupationen erlebte: erst den Einmarsch der Wehrmacht, dann den der Truppen des Warschauer Pakts und schließlich den Militärputsch in Chile 1973. Wie energisch manche Tänzer nach vielen Jahrzehnten markante Bewegungen wieder ausführen, lässt einen staunen. Manche erinnern sich wie selbstverständlich an jede Rolle, die im „Grünen Tisch“ vorkommt. Andere entwickeln Theorien über Jooss’ geniale Transformation des Krieges und seiner Profiteure in Choreografie: „Es ist ekelhaft, aber menschlich“, sagt einer.

Alle bleiben sie namenlos in den Filmausschnitten. Die Aufführung macht offenkundig, dass Olga de Soto weder eine Choreografin mit Sinn für Dramaturgie noch eine mit entsprechendem Handwerkszeug gerüstete Dokumentarin, geschweige denn eine passable Kamerafrau, Tonmeisterin und Cutterin ist. Alle diese Profis hätten die betagten Persönlichkeiten verdient. Vor ihnen kann man sich an diesem Abend leider nicht verneigen, weshalb der Applaus völlig zu Recht spärlich ausfällt. Arte, bitte übernehmen Sie!