Ein Verstorbener wird Erster

KORREKTUR Der Sprinter Abraham Tokazier wurde 1938 in Helsinki Opfer antisemitischer Manipulation. Der finnische Leichtathletikverband erkennt ihm erst jetzt den Sieg zu

Leo-Dan Bensky, Ehrenvorsitzender von Makkabi Helsinki, vermisst aber das klare Eingeständnis, dass hier aus politischen und rassistischen Gründen manipuliert worden war

VON REINHARD WOLFF

Am vergangenen Samstag gewann Abraham Tokazier einen 100-m-Lauf. Posthum. Gestorben ist der finnische Leichtathlet nämlich schon 1976. Und der Lauf fand am 21. Juni 1938 statt. Damals gewann Tokazier den Wettbewerb eigentlich auch schon. Doch die Jury vermochte das trotz eines eindeutigen Zielfotos nicht zu erkennen: Ein jüdischer Sieger war offenbar nicht opportun.

Der skandalöse Einhundertmeterlauf fand anlässlich der Einweihung des neu gebauten Olympiastadions in Helsinki statt. Finnlands Hauptstadt war als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele von 1940 vorgesehen – wegen des Weltkriegs fielen die aus und fanden an gleicher Stelle erst 1952 statt. Und zur Feier des Tages saß auch eine größere Delegation aus Deutschland, dem Gastgeber der Olympischen Spiele von 1936, auf der Ehrentribüne.

Der 28-jährige Abraham Tokazier, der für den jüdischen Sportverein Makkabi Helsinki startete, überquerte als Erster die Ziellinie und wurde über den Stadionlautsprecher auch umgehend zum Sieger ausgerufen. Zum großen Erstaunen der Zuschauer sahen die Zielrichter den Einlauf ganz anders und platzierten Tokazier auf den vierten Platz hinter drei anderen finnischen Läufern, alle mit der Siegerzeit von 11 Sekunden. Auf einen Protest von Tokaziers Klub reagierte der finnische Leichtathletikverband Sul („Suomen Urheiluliitto“) ebenso wenig wie auf Fotos, die die Tageszeitungen Helsingin Sanomat und Huvudstadsbladet am folgenden Tag veröffentlichten und die eindeutig belegten, dass der „Vierte“ in Wirklichkeit der Sieger war.

In dem vor einigen Monaten erschienenen Buch „Finland’s Holocaust“ mutmaßen die Historiker Simo Muir und Malte Gasche, der damalige Sul-Präsident und Innenminister Urho Kekkonen – zwischen 1956 und 1981 finnischer Staatspräsident – könnte seinen Einfluss auf die Kampfrichter geltend gemacht haben. Der Verband habe es nicht für opportun gehalten, dass jüdische Sportler sich auf vorderen Plätzen platzieren und damit eine Chance zur Aufnahme in Finnlands Olympiamannschaft von 1940 haben könnten. Zur Unterstützung dieser These beziehen sich die beiden Historiker auf zeitgenössische Zeitungsartikel. Sie haben auch die Privatkorrespondenz von Kekkonen aus den 1930er Jahren ausgegraben, die ihrer Einschätzung nach beweist, dass dieser, auch wenn offiziell kritisch gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus eingestellt, offenbar antisemitische Anschauungen hatte.

Andere vertreten die These, die Kampfrichter hätten die falsche Entscheidung zu verantworten. Diese saßen neben der deutschen Delegation und wollten dieser vielleicht einen „Gefallen“ tun. Was nicht die Frage beantwortet, warum der Leichtathletikverband 75 Jahre brauchte, um den Skandal einzugestehen und zu korrigieren. Auf Vorstöße der Familie von Tokazier und von Makkabi wurde nicht reagiert. Neben der Erwähnung in „Finland’s Holocaust“ bedurfte es eines weiteren Buches, dem gerade erschienenen Roman „Kangastus 38“ („Fata Morgana 38“) des Schriftstellers Kjell Westö und einer dadurch ausgelösten Mediendebatte, bis der SUL sich eines anderen besann.

Mitte September entschuldigte sich der Verband offiziell, was Tokaziers Verein Makkabi Helsinki aber als ungenügend abtat. Worauf man Ende letzter Woche eine geänderte Resultatsliste des Rennens vom 21. 6. 1938 veröffentlichte, die Tokazier nun als Sieger führt. Zur Begründung verweist man auf „neue Beweise“. Leichtathletikverbandspräsident Vesa Harmaakorpi erklärt darüber hinaus, „die Zielrichter haben einen eindeutigen Fehler gemacht“: „Jede Manipulation oder Verfälschung von Resultaten ist schockierend und verstößt gegen grundlegende Werte des Sports.“

Als „ersten Schritt“ begrüßt dies Leo-Dan Bensky, Ehrenvorsitzender von Makkabi Helsinki, vermisst aber das klare Eingeständnis, dass hier aus politischen und rassistischen Gründen manipuliert worden war.