Jedes Objekt ein Indiz

Thomas Demands fünfteiliger Zyklus „Klause“ fokussiert einen denkbar trostlosen und langweiligen Ort, Treffpunkt freilich einer ruchlosen Gemeinschaft von Pädophilen

Das Grauen hat einen Namen. Und ein Gesicht. Bedauerlich für die Mediengesellschaft, dass sie weder Namen noch Gesichter von Angeklagten in Gerichtsprozessen zeigen kann. So wird vor dem Schwurgericht Saarbrücken das Grauen nun schon seit mehr als 80 Verhandlungstagen nur beim Vornamen genannt. Christa W., Andrea M. oder Horst K. sind Angeklagte in einem der undurchsichtigsten Kindesmissbrauchsprozesse der letzten Jahre. Die Leiche des misshandelten, vergewaltigten und ermordeten Pascal wurde bis heute nicht gefunden.

Der Ort des Geschehens jedoch wurde von den Film- und Fotokameras bis in die hintersten Winkel ausgeleuchtet. Keine besonders dankbare Architektur für eine nach Sensationen heischende Bildberichterstattung. Die „Tosa-Klause“ war eine üble Spelunke im sozial benachteiligten Saarbrücker Stadtteil Burbach. Dass sie als Treffpunkt für eine an Ruchlosigkeit und Menschenverachtung kaum zu übertreffende Gemeinschaft von Pädophilen diente, scheinen mehr Leute gewusst zu haben, als es unserer Gesellschaft recht sein kann. Aber man sieht es der Kaschemme nicht an. Oder doch?

Der Fotokünstler Thomas Demand hat das Haus und einige Innenräume nachgebaut und zum Thema seines fünfteiligen Zyklus „Klause“ gemacht. Wie üblich erklimmt Demand den Weg zu den wenigen Fotografien über fleißige Bastelarbeit. Möbel und Kletterpflanzen, Küchengeräte und Reinemachinventar: alles ist aus Papier und Pappe konstruiert. Zwei Außenansichten zeigen die Fassade des Lokals. Dichtes Rankwerk von Efeu überwuchert die Wand mit den zwei kleinen undurchsichtigen Fenstern. Die Eingangstür ist verbarrikadiert, aber der Zigarettenautomat hängt noch. Drei Fotos gewähren Einblick ins Innere der Provinzkneipe. Im Hinterraum des Schanktresens stehen Kaffee- und Brotschneidemaschine. Am Griff eines Kühlschranks hängen Poliertücher, von der Deckenlampe noch Luftschlangen einer Party, deren Anlass man sich lieber nicht vorstellen möchte. Im Abstellraum stapeln sich Kisten neben Schrubber, Eimer und Putzmitteln. Vor einem blinden Fenster vertrocknet eine Yuccapalme.

Demand fokussiert auf einen denkbar trostlosen und langweiligen Ort, der seiner bildlichen Belanglosigkeit zum Trotz zu einem Schauplatz des öffentlichen Interesses wurde. Die Magazin- und Fernsehbilder von unaufgeräumten Besenschränken und verlassenen Wirtschaftsräumen waren gleichfalls alles andere als aufregend. Interessant wurden sie nur durch das nicht Abbildbare, das in der Tristesse der Alltäglichkeit stattgefunden hat. Hier setzt Demand an. Er führt die Betrachter in die vermeintliche Keimfreiheit seiner Papiermodelle. Sie zitieren eine Realität, die erst als Medienrealität bekannt wurde. Unkundige Betrachter tappen in den aufwändig ausgeleuchteten Attrappen im Dunkeln. Wohl auch Richter, Staatsanwalt und Verteidiger, Verdächtige und Verdächtigte, Zeugen und Prozesszuschauer: Nach über drei Jahren Beweisaufnahme, Verhören und Zwischenberichten scheint eine Aufklärung des Falls von Kindesmissbrauch in ungeahnter Anzahl so weit entfernt, wie die Frage unlösbar, warum es immer wieder zu solchen Verlusten von Anstand und Menschlichkeit kommt. Die Medien kapitulieren vor einer angemessenen Position und flüchten sich stattdessen in die Befriedigung einer angeblich nach Spektakeln gierenden Öffentlichkeit.

Demand gelingt hier eine Intervention mit den Mitteln der Kunst. Eben weil sie nicht aufklären muss, nicht gefallen muss, niemanden auf ihre Seite ziehen muss. Demands Fotografien lassen sich aber nicht nur als Kritik einer medialen Bildpolitik lesen. Denn sie konfrontieren die Betrachter mit ihrer eigenen Lust am Voyeurismus, obwohl es de facto nichts Interessantes zu sehen gibt. Im Nachhinein wird jedes Objekt, jede verrutschte Fußmatte, jeder vernachlässigte Blumentopf zum Indiz für das Unfassbare. Die fünf großformatigen Fotografien und besonders die Detailaufnahmen im Katalog animieren zur Spurensuche. Dass eine solche Aufmerksamkeit für kleine Anzeichen zum Zeitpunkt der Verbrechen offenbar fehlte, daran erinnern sie auch. MARCUS WOELLER

Bis 6. Mai 2006. Galerie Ester Schipper, Linienstr. 85, Di. bis Sa. 11 bis 18 Uhr, Katalogbuch mit Essays von Dietmar Dath u. a.