In einem armen Land die ärmsten Teufel

Weil sie angeblich „Hexen“ sind, leben in Kongo Hauptstadt ganze Generationen von Kindern auf der Straße, wo sie sich notdürftig über Wasser halten können – in Rudeln und Jugendbanden

Es ist ein Teufelskreis der Perspektivlosigkeit: Hier werden Kinder von Kindern vergewaltigt – und bekommen selbst Kinder

von DOMINIC JOHNSON

Als Aaron neun Jahre alt war, starb seine Mutter an Aids. Der Vater des kleinen kongolesischen Jungen nahm sich eine neue Frau, und die mochte ihn nicht: Sie gab ihm weniger zu essen als ihren leiblichen Kindern, er durfte nicht fernsehen, und ständig wurde er geschlagen. Nach einer Weile starb auch der Vater. Die Stiefmutter machte Aaron dafür verantwortlich und jagte ihn davon. Heute ist Aaron 15 Jahre alt und lebt in Kongos Hauptstadt Kinshasa auf der Straße – eines von geschätzt 25.000 Straßenkindern in Afrikas drittgrößter Metropole, vielleicht sind es auch 50.000.

Die streunenden Kinder von Kinshasa sind Objekt zahlreicher Spekulationen und Mythen. Diebstahl, Kriminalität, Bandenbildung, Hexerei wirft man ihnen gerne vor. Der Großteil der Gesellschaft behandelt sie wie Dreck, und so sehen sie oft auch aus: zwischen Müllhaufen zu Hause, stinkend, schon durch ihre Anwesenheit bedrohlich. Passanten machen einen Bogen um sie im Namen der Sicherheit. Polizisten misshandeln sie im Namen der Verbrechensbekämpfung. So genannte Pfingstkirchen foltern sie im Namen der Teufelsaustreibung. „Aus ihren Familien verjagt und ohne Fürsorge und Unterstützung, sind sie Opfer physischer, sexueller und emotionaler Misshandlung“, bilanziert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in einem umfassenden Bericht über Kongos Straßenkinder, der diese Woche veröffentlicht wurde und in dem Aarons Geschichte als eine von vielen erzählt wird. „Ohne sicheren Zugang zu Nahrung, Obdach oder anderen Grundbedürfnissen, werden sie von Erwachsenen ausgebeutet, auch von Sicherheitskräften, die sie für illegale Aktivitäten einsetzen.“ Gerade im Vorlauf zu den geplanten Wahlen im Kongo, warnt HRW, seien die Straßenkinder leicht als Milizen einsetzbar und daher auch ein politisches Problem.

Straßenkinder gibt es überall in Entwicklungsländern. Aber im Kongo scheint das Phänomen besondere Sorge zu erregen. Das Land ist nach einem Jahrzehnt des Krieges verwüstet. Viele Familien haben sich einfach aufgelöst. Es gibt eine Million Aidswaisen. Manche Bürgerkriegsfraktionen bestanden zur Hälfte aus Kindersoldaten.

Diese sozialen Verwerfungen sind jedoch nicht der einzige Grund dafür, warum so viele Kinder für sich selbst sorgen müssen. Untersuchungen zufolge landen bis zu 70 Prozent der Straßenkinder in Kinshasa auf der Straße, weil man ihnen vorwirft, vom Teufel besessen zu sein oder Hexerei auszuüben – wenn eben ein Familienangehöriger an Aids stirbt oder wenn es der Großfamilie plötzlich schlecht geht.

Verbreitet ist das vor allem in besonders christlichen Haushalten, wo die Eltern sich als „wiedergeboren“ bezeichnen und zu fundamentalistischen Pfingstkirchen gehen: Wir haben doch alles richtig gemacht, wie es in der Bibel steht – wenn wir immer noch leiden, dann muss der Teufel unter uns sein.

„Immer mehr Kinder werden auf die Straße gejagt, weil Pastoren von Gott die Offenbarung erhalten haben sollen, dass sie Hexen sind“, schreibt der kongolesische Informatiker Cedric Kalonji in einem Internet-Blog zum Thema und empört sich: „Sagt man nicht, die Jugend sei unsere Zukunft? Was ist also die Zukunft des Kongo? Ich verstehe nicht, wie eine Mutter neun Monate lang ein Kind austragen kann und es dann auf die Straße wirft, weil es eine Hexe sein soll.“

Manche der rund 2.000 Erweckungskirchen und Sekten in Kinshasa organisieren Exorzismusriten, die an Folter grenzen. Die Kinder werden ausgehungert und gequält, bis sie im Delirium sind. Das ist dann das Zeichen, dass der Teufel in ihnen steckte.

Es gab sogar einen 12-jährigen Kongolesen in London, den seine Familie zwecks Teufelsaustreibung nach Kinshasa zurückschickte – das BBC-Fernsehen hat ihn aufgetrieben. Die für diesen Fall verantwortliche Kirche „Combat Spirituel“ (Geistiger Kampf), geleitet vom Ehepaar Olangi, ist eine der mächtigsten und reichsten Pfingstkirchen Kinshasas und zählt Präsident Joseph Kabila zu ihren Anhängern.

Der britische Sektenexperte Richard Hoskins betont, dass die Exorzismen der Sekten nichts mit traditioneller afrikanischer Religion zu tun haben, sondern neue Reaktionen auf die Krise des Kongo darstellen. Gebildete Kongolesen wiederum lehnen das Sektenunwesen scharf ab und sehen darin ein weiteres Indiz für den Verfall ihres Landes. In Kalonjis Blog kamen die unterschiedlichsten Reaktionen auf seinen entsprechenden Vorwurf. „Natürlich gibt es Hexen!“ schrieb einer: „Guckt euch doch diese Kinder an. Sie scheißen auf den Marktplatz und dann verlangen sie Geld, damit sie es wegputzen.“

Ein anderer meinte: „Und wenn ein angeblicher Verhexter irgendwann ein großer Mann wird, werden ihn seine Eltern immer noch für verhext halten? Diese selbst ernannten Pastoren reden doch nur von Hexerei und Besessenheit, um ihre Kirchen voll zu kriegen. Als Jesus Wunder vollbracht hat, hat man ihn als Hexe bezeichnet?“

Angesichts der dramatischen jüngeren Geschichte des Kongo ist es kein Wunder, dass so viele Kinder mittellos auf der Straße landen – aber kaum irgendwo hat sich so tief in die kollektive Imagination eingegraben, dass Straßenkinder eine Bedrohung der Normalität darstellen.

Die Ambivalenz zeigt sich schon im gängigen Wort für ein Straßenkind in Kinshasa: „Shégué“. Das soll, sagen die einen, eine Abkürzung für „Che Guevara“ sein: so verkörpert das Straßenkind die Revolution. Die anderen führen den Begriff auf „Schengen“ zurück – „Schengen-Visa“ erteilen im Kongo, wie in ganz Afrika, den Zugang nach Europa. Straßenkinder als Symbol des Traumes vom Ausbruch aus dem engen Kongo?

Ethnologen, die Kongos Straßenkinder studiert haben, betonen das Moment der Freiheit und Selbstbestimmung, das ihrem Leben zugrunde liegt. Auf der Straße gibt es Sex, Nahrung und Geld. In Untersuchungen sind unter den Straßenkindern Kinshasas besonders viele hochintelligente Kinder gefunden worden, die sich nicht leicht in die konservative und intolerante Großfamilien-Gesellschaft einfügen.

Ganze Rudel von Straßenkindern leben selbst organisiert auf Kinshasas Friedhöfen – was sie natürlich noch anfälliger für Satanismusverdächtigungen macht. „Die meisten Shégués sagen, dass sie die Straße vorziehen, weil sie dort unabhängig sind und in Freiheit leben, weit weg von der Diktatur der Eltern“, bilanziert eine Untersuchung in Kongos führender Tageszeitung Le Potentiel. „Sie respektieren sich untereinander und halten sich für eine Kraft im Land.“ Ein ehemaliges Straßenkind wird zitiert: „Es ist wie in der Armee.“ Das ist positiv gemeint.

Doch die Kehrseite davon ist Brutalität und Gewalt. Oft geleitet von erwachsen gewordenen Exstraßenkindern, die weiter auf der Straße leben, rekrutieren Straßenkinderbanden Neuankömmlinge mit bewährten Mustern der Einschüchterung: Mutproben, zum Beispiel ein schwächeres Bandenmitglied ausrauben; sexuelle Verfügbarkeit. HRW spricht von einer „wachsenden urbanen Unterklasse, mit eigenen erwachsenen Führern und eigener Sprache“, die zum Teil in die zweite und dritte Generation gehen. Hier werden Kinder von Kindern vergewaltigt und kriegen selbst Kinder, die ohne jegliche Perspektive aufwachsen.

Gerade zu den bevorstehenden Wahlen können solche Gruppen gefährlich werden. Es gibt Straßenkinderbanden in den Slums, die sich nur schwer von Jugendbanden im Allgemeinen unterscheiden lassen, die es ja auch zahlreich gibt: mit wunderbaren Fantasienamen wie „Rote Armee“, „Zulus“, „Bagdad“, „UNO“, „Sowjetunion“, „Kalifornien“. In Kinshasa warnte im vergangenen Oktober die Menschenrechtsgruppe „Freunde von Nelson Mandela“, Jugendliche und Straßenkinder organisierten sich in Banden oder „Pseudo-Sportgruppen“, um „Unordnung zu stiften, wenn die Wahlergebnisse verkündet werden“. In einigen Slums herrsche bereits latenter Krieg: „Für diese Jungen kann ein Bewohner eines Viertels nicht ein anderes betreten, ohne bedroht zu werden. Sie verlangen von jedem Passanten seine Wählerkarte und zerreißen sie, wenn man aus einem feindlichen Viertel kommt.“ Die Gruppe empört sich: „Es ist schon erstaunlich, dass im Kongo die Behörden gewaltsam friedliche Demonstranten angreifen, während Shégués und Banden Akte der Barbarei begehen können.“

Im September 2004 gab es bei Massakern in der Diamantenmetropole Mbuji-Mayi im Zentrum des Kongo 29 Tote unter organisierten Straßenkindern. Von staatlichen Behörden angeworben, um Marktgebühren einzutreiben, waren die Kinder Zielscheibe von organisierten Milizen illegaler Diamantenschürfer geworden, die in Mbuji-Mayi zur radikalen Opposition gegen das Kabila-Regime gehören und befürchten, im Rahmen der Neuordnung von Kongos Diamantenindustrie vertrieben zu werden. Im lokalen Radio riefen die Schürfer auf, die Kinder zu lynchen. Manche wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, andere ertränkt. Nach einem Bericht des kongolesischen Jugendverbandes „Cojeski“ gehören die Straßenkinder von Mbuji-Mayi zu den bestorganisierten des Kongo: Sie nennen sich „Rote Armee“, haben eigene Waffenarsenale und Gefängnisse.

Eine Rückkehr in die Gesellschaft ist für diese Leute nur denkbar, wenn die Gesellschaft etwas zu bieten hat. Das ist im Kongo heute nicht der Fall. „Die kongolesische Regierung muss diese Kinder schützen und die tieferen Gründe angehen, die jedes Jahr tausende von Kindern auf die Straße treiben“, fordert HRW.

Kongolesische Organisationen glauben daran nicht. Eine der am häufigsten geäußerten Sorgen in Kinshasa lautet: Bald sind alle diese Kinder erwachsen – und was machen sie dann?