Stadt der toten Mädchen

GRAPHIC NOVEL Die Zeichnerin Peggy Adam erzählt in „Luchadoras“ eine fiktive Geschichte aus der sehr realen Grenzstadt Ciudad Juárez

Es gibt keine staatliche Institution, die an einer Aufklärung dieser Taten interessiert wäre

VON KATJA LÜTHGE

Ich will nicht wie all die anderen Mädchen im Straßengraben landen“, sagt eine als Alma angesprochene junge Frau. Sie wirkt selbstbewusst, trägt langes schwarzes Haar und ein umkränztes Totenkopftattoo auf dem Oberarm.

All die anderen Mädchen, das sind die vergewaltigten und grausam zugerichteten Frauen, deren Leichen auf den Straßen, den Müllkippen oder im Wüstenstaub von Ciudad Juárez in Mexiko immer und immer wieder gefunden werden.

„Das alles muss sich ändern … egal wie“, wird sie von ihrer mütterlich wirkenden Gesprächspartnerin in der Eingangssequenz des Comics „Luchadoras“ der Autorin Peggy Adam bestärkt. „Ja, es muss sich ändern … für unsere Töchter“, ergänzt Alma mit einem aus der Verzweiflung geborenen Mut.

Die französische Zeichnerin Peggy Adam erzählt die fiktive Geschichte der jungen Mexikanerin Alma aus der sehr realen Grenzstadt Ciudad Juárez, die als Hauptstadt der toten Mädchen zu schrecklicher Berühmtheit gelangt ist. In harten Schwarz-Weiß-Kontrasten zeichnet Peggy Adam eine Gesellschaft, in der der Machismo und die damit einhergehende Frauenverachtung extrem brutale Ausmaße angenommen hat.

Ehemänner, Brüder, Busfahrer, Polizisten, Gangmitglieder, Richter: Im Zweifel einfach jeder Mann fühlt sich offensichtlich im Recht, Frauen zu beleidigen, zu schlagen, zu erniedrigen, zu benutzen und im schlimmsten Fall aus Wut, Spaß oder Langeweile zu töten. Diese speziell gegen Frauen gerichtete Gewalt hat unter dem Begriff Femizid sogar eine eigene Theoriebildung erfahren. Dennoch, das Töten hört nicht auf.

Peggy Adam gelingt es in ihrem Comic erstaunlich undidaktisch und eindringlich, Bedrohungen und Objektivierungen aufzuzeigen, denen Frauen im öffentlichen und privaten Raum ausgesetzt sind. Alma wird von ihrem rachsüchtigen Exverlobten, einem gewalttätigen Gangmitglied, mit dem Tod bedroht. Sie muss erleben, wie ihre kleine Tochter eine übel zugerichtete Mädchenleiche findet. Zynische Polizisten reagieren statt mit Mitleid mit höhnischen Kommentaren auf die „nuttige“ Kleidung der Ermordeten.

Der Inspektor taxiert Alma im Rückspiegel, starrt ihr vollkommen ungeniert auf die Brust und in den Schritt. Etwas, das ihr als Barfrau bekannt ist. Alma beobachtet, wie immer wieder junge Frauen aus den zuhauf angesiedelten Billigproduktionsfabriken, den „Maquiladoras“, verschwinden und häufig als verstümmelte Leichen am Straßenrand wieder auftauchen. Es gibt aus Almas Perspektive keine rechtsstaatliche Institution, die an der Aufklärung dieser Verbrechen interessiert wäre. Die Autorin hat mit Alma einen starken Charakter entworfen. Luchadoras nennen die Mexikaner ihre Wrestlerinnen. Und kämpfen kann diese Frau. Mitunter bedient sie sich dabei ebenfalls gewaltsamer Mittel, um ihr Leben und das ihrer Tochter zu sichern. Doch der grobe dicke Strich, die wie Zellen wirkenden Panels, sollen es überdeutlich zeigen: Eine Flucht aus diesem Leben scheint unmöglich.

Immer noch aktuell

Nur ein einziges Mal hebt Peggy Adam den massiven, jochartigen Panelrahmen auf, nämlich als Alma und der Tourist Jean sich kennenlernen. Für den kurzen Moment der allerersten Verliebtheit scheint alle Schwere aufgehoben, ein Schwebezustand tritt an deren Stelle.

Jean, so wird sich zeigen, steht dabei stellvertretend für den Leser. Es ist sein Blick durch die Kameralinse, mit dem die Comicleserinnen die Stadt ein wenig kennenlernen sollen. Mit Jean teilen sie das Privileg, nur durchreisende Beobachter und nicht unentrinnbar Betroffene sein zu müssen.

Im Jahr 2006, auf dem vorläufigen Höhepunkt der Femizide in Ciudad Juárez, erschien „Luchadoras“ im französischen Original. Die jetzige deutsche Veröffentlichung mag in diesem Sinne ein wenig spät erscheinen. Aber sie ist leider immer noch aktuell. Wie mexikanische Menschenrechtsorganisationen beklagen, hat angesichts des im Fokus stehenden staatlichen Krieges gegen die Drogenkartelle ein aktuelles Desinteresse der Weltöffentlichkeit an den Frauenmorden eingesetzt.

Das ist um so verheerender, als die Anzahl der ermordeten Frauen und Mädchen seit 2010 noch einmal sprunghaft angestiegen ist. Zudem zeigen der Staat und seine Institutionen, wenn das überhaupt möglich ist, noch weniger Interesse an der Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung der Mörder als jemals zuvor. Bis heute bleibt es deshalb weitgehend der Spekulation überlassen, die Schuldigen zu benennen. Am wahrscheinlichsten ist deshalb immer noch eine grauenhafte Allianz aus einfachen Kriminellen, Polizisten, ranghohen Staatsbeamten, Ehemännern, Politikern und Drogenbossen, die eines eint: ihre gemeinschaftsbildende Geringschätzung und Verachtung von Frauen. „Für unsere Töchter“, so beschwört es Comicfigur Alma stellvertretend für all die realen bedrohten, geschlagenen, misshandelten und ermordeten Frauen in Ciudad Juárez und anderswo, „muss sich alles ändern.“ Eine Hoffnung, die sich in entsetzlicher Weise bislang nicht erfüllt hat.

Peggy Adam: „Luchadoras“. Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Avant-Verlag Berlin 2013, 96 Seiten, 17,95 Euro