Debatte Afghanistan: Nur Fassaden eines Staats

Nach acht Jahren Krieg ist der Demokratie-Import gescheitert. Der Westen muss am Hindukusch erst für Sicherheit und Entwicklung sorgen.

Gemessen an den hehren Zielen der Befriedung und Demokratisierung, muss die internationale Intervention am Hindukusch nach acht Jahren wohl als gescheitert angesehen werden. Seit 2006 hat sich die Sicherheitslage dort kontinuierlich verschlechtert, hinzu kam die Farce um die Präsidentschaftswahl. Obamas Ankündigung, die ausländischen Truppen aufzustocken, kann daran zunächst nichts ändern.

Als Gründe für das Scheitern in Afghanistan lassen sich Machtkalkül und fragwürdige Personalauswahl des afghanischen Staatspräsidenten Karsai ebenso ins Feld führen wie die "Mentalitäten" einer Stammesgesellschaft, versäumte Aufsichtspflichten der internationalen Gemeinschaft oder die terrorismusfixierte Politik der USA. Sicher, all das ist von Bedeutung. Wer aber wissen möchte, warum es so schwer ist, in Afghanistan und anderswo einen funktionsfähigen Staat aufzubauen, der muss nach dessen strukturellen Grundlagen fragen.

Ein stabiler Staat gründet auf zwei Faktoren: Handlungsfähigkeit und Legitimität. Staaten, die - wie Afghanistan, Irak oder auch Bosnien - durch eine internationale Intervention quasi erst neu gegründet wurden, mangelt es zunächst an beidem. Handlungsfähig ist ein Staat erst dann, wenn er gegenüber allen Gruppen der Gesellschaft verbindliche Regeln setzen und durchsetzen kann. Dafür muss er über das Gewaltmonopol auf seinem Territorium verfügen, außerdem benötigt er zur Herrschaft auch Geld.

In vielen Ländern der Dritten Welt stammt das Staatsbudget zu großen Teilen aus internationalen Zuwendungen oder dem Erlös aus staatlich kontrollierten Exporten. Der afghanische Staat finanziert sich zu fast 90 Prozent aus ausländischen Hilfsgeldern. Darüber hinaus erlaubt es der Drogenhandel auch anderen Gruppen, lokal begrenzte Herrschaft auszuüben, die Zentralregierung konnte ihre Geltung deshalb bisher nicht über das gesamte Staatsgebiet ausdehnen. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Drogengeschäft vor allem wegen des Konsumverhaltens und der Antidrogenpolitik der westlichen Staaten lukrativ ist - und zwar vor allem für die Zwischenhändler, weniger für die Kleinbauern am Anfang der Handelskette.

Indem sie den Staat von der konfliktträchtigen Aufgabe entbindet, Steuern zu erheben, erlaubt es die internationale Hilfe zudem, sich vom Willen der Bevölkerungsmehrheit zu entkoppeln. Die externen Gelder stützen nämlich jene klientelistischen Netzwerke, nach denen die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat in Afghanistan traditionell organisiert sind. Durch Geld und andere Gunstbeweise gelingt es den Machtträgern, bestimmte Gruppen an sich zu binden und politisch zu mobilisieren. Im Machtkampf um die Spielregeln im jungen Staat herrscht deswegen nicht die demokratische Debatte, sondern die tradierte Logik der Kooptierung lokaler Machtträger vor.

Das trägt natürlich kaum dazu bei, dem Zentralstaat mehr Legitimität zu verleihen. Dabei ist Legitimität, also die gesellschaftliche Anerkennung und Nutzung staatlicher Institutionen, von fundamentaler Bedeutung für die Stabilität staatlicher Herrschaft. Wichtiger als die Verfahrenslegitimität, die auf Wahlen beruht, ist in armen Gesellschaften die funktionale Legitimität, die darauf basiert, dass der Staat für ein Mindestmaß an Sicherheit und Wohlfahrt sorgt. Auch hier ist die Bilanz in Afghanistan ernüchternd. Denn anders als auf dem Balkan, ist das ausländische Militär hier keine übergeordnete Schutzmacht, sondern hat - als ein Gewaltakteur unter vielen - faktisch zu mehr Unsicherheit beigetragen. Ähnlich schlecht ist es um die sozioökonomische Lage der meisten Afghanen bestellt. Es wäre falsch, die Verantwortung dafür allein auf die weit verbreitete Korruption zu schieben. Schließlich ist es die internationale Gemeinschaft selbst, die mit ihrer Sicherheits- und Wirtschaftspolitik den Rahmen für Entwicklung oder Stagnation in Afghanistan abgesteckt hat.

In Afghanistan hat das internationale Engagement zwar viele formale Institutionen nach westlichem Vorbild hervorgebracht. Weil dem neuen Staat Handlungsfähigkeit und Legitimität fehlen, muss man hier aber eher von einer Staatsfassade sprechen. Wenn dem Westen ernsthaft an Afghanistans Zukunft gelegen ist, muss er seinen Militäreinsatz an der Frage messen, ob er für Sicherheit und Entwicklung sorgt. Selbst auf dem Balkan, wo dies halbwegs gelungen ist, bleibt unklar, ob es nach einem Abzug der ausländischen Truppen auch so bleiben wird. In Afghanistan sind die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden weit schwieriger. Fraglich bleibt, ob es letztlich gelingt, das staatliche Gewaltmonopol von außen herzustellen und durch die Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte zu verfestigen.

Um konkurrierende Machtzentren zu schwächen, muss der Staat außerdem die Drogenökonomie eindämmen. Dass dies nicht einfach durch die Vernichtung von Schlafmohnernten geschehen kann, sollte angesichts der großen Bedeutung dieses Wirtschaftsfaktors für große Teile der ländlichen Bevölkerung klar sein. Gefragt sind vielmehr kreative Ansätze wie technische Hilfen für den verbesserten Getreideanbau, die Subventionierung alternativer Feldfrüchte oder die Legalisierung und Kontrolle des Schlafmohnanbaus zur pharmazeutischen Nutzung. Sie müssten aber viel konsequenter als bisher durch die Geberstaaten verfolgt werden.

Was schließlich die politische Ordnung betrifft, darf sich der Westen den Realitäten nicht länger verschließen. Gemäßigte Taliban in die künftige politische Ordnung einzubinden ist keine Frage der Moral, sondern eine notwendige Voraussetzung für langfristige Stabilität. Und angesichts der großen Rolle, die lokale Machthaber spielen, ist auch eine Abkehr vom staatlichen Zentralismus notwendig. Erinnert sei daran, dass Demokratisierung ein äußerst langwieriger Prozess ist. In Westeuropa konnte sie sich historisch erst auf der Grundlage des modernen Staats mit seinem Gewaltmonopol, klar definierten Grenzen und Zuständigkeiten entwickeln. Afghanistan ist davon weit entfernt.

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