Männer mit Geheimnissen

UNDERSTATEMENT In seinem Debüt „Vermisst“ erzeugt der Literaturprofessor Dror Mishani Spannung allein aus der Diskrepanz zwischen Schein und Sein

Ein 16-jähriger Junge wird vermisst. Kurz vor Feierabend spricht seine Mutter bei der Polizei vor; und Inspektor Avraham Avraham wird sich noch lange danach mit Schuldgefühlen quälen, weil er diese Mutter wieder weggeschickt hat, ohne eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Der Junge wird wohl weggelaufen sein, sollte man meinen, wie so viele andere. Doch Avi Avraham irrt, denn der vermisste Ofer taucht nicht wieder auf.

Das rätselhaft spurlose Verschwinden des Teenagers ist im Krimidebüt des Literaturprofessors Dror Mishani Anlass für eine Ermittlung, die sich quälend lang hinzieht, dem Ermittler eine Menge Gelegenheit gibt, sich schlecht zu fühlen, und die nicht nur die Polizei, sondern auch die Leserschaft auf so manche falsche Fährte führt. Dabei entwickelt der Roman einen eigentümlichen Sog, der sich aus Ahnungen, Fantasien und ungelösten Fragen speist. Neben Inspektor Avi Avraham kommt eine zweite männliche Hauptfigur ins Bild: Seev Avni, ein Nachbar des verschwundenen Ofer und sein ehemaliger Nachhilfelehrer für Englisch. Seev hat offenbar psychische Probleme; eine innere Distanzlosigkeit kennzeichnet sein Denken und nun auch sein Verhalten. Nicht nur, dass er der Polizei falsche anonyme Hinweise gibt, um damit ein ungekanntes Machtgefühl auszukosten. Seev besucht einen Kurs für kreatives Schreiben und lässt sich dazu hinreißen, Briefe im Namen des verschwundenen Teenagers zu verfassen, die er auch noch dessen Eltern zustellt.

Inspektor Avi Avraham wiederum, dessen einziges Hobby es ist, Krimis zu lesen, um nachzuweisen, dass die darin beschriebenen Detektive falsch liegen, ist zum einen selbst nicht gerade ein Heldencharakter und wird, zum Zweiten, am Ende selbst doppelt falsch gelegen haben.

Diese mehrfache Brechung der Handlung im Spiegel des geschriebenen Wortes ist natürlich ein Einfall, wie man ihn von einem Literaturdozenten erwarten würde, der gerade seinen ersten Krimi schreibt. Doch Dror Mishanis Prosa ist alles andere als papieren. Es ist ziemlich eigenwillig, fast etwas penetrant, wie dicht er an seinen beiden Hauptfiguren dranbleibt, Männern, die im Berufsleben professionell und erwachsen agieren, deren Innenleben aber als – wenn auch in unterschiedlichem Maße – verkorkst bezeichnet werden muss. Und trotz der nicht nur angenehmen Nähe der Erzählung zu den Figuren bleibt ein unerklärlicher Rest Geheimnis. Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, zwischen dem Offensichtlichen, das trügerisch an der Oberfläche der Dinge schimmert, und der verborgenen Wahrheit grundiert den ganzen Roman, der beharrlich sein eigenes Tempo verfolgt und dessen Autor die Hauptfigur unbeirrt falsche Wege gehen lässt, um die richtige Lösung am Ende als beiläufigen Nachklapp zu präsentieren. Das ist nicht nur ziemlich gut. Das ist ziemlich großes Understatement. KATHARINA GRANZIN

■  Dror Mishani: „Vermisst“. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Zsolnay Verlag, Wien 2013, 351 Seiten, 17,90 Euro